Historiker Michael Wolffsohn bei ÖIF-Diskussion: „Eine Gesellschaft braucht allgemeingültige Regeln“

v. l. n.r. ÖIF-Direktor Franz Wolf, Historiker Michael Wolffsohn, "Presse"-Chefredakteur Rainer Nowak © Thomas Unterberger

Im ÖIF-Wertekurs sprach Wolffsohn mit den Teilnehmer/innen über Eigeninitiative und Möglichkeiten, in Austausch mit der österreichischen Bevölkerung zu kommen.
Am 19. Juni war der deutsche Historiker und Publizist Michael Wolffsohn in Wien zu Gast. Beim Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF) besuchte Wolffsohn einen Werte- und Orientierungskurs für Flüchtlinge und diskutierte mit ihnen über Eigeninitiative sowie Möglichkeiten, in Austausch mit der österreichischen Bevölkerung zu kommen. Am Abend sprach er im Rahmen der ÖIF-Gesprächsreihe „Perspektiven Integration“ im Wiener Leopold Museum mit Moderator Rainer Nowak, Chefredakteur der Tageszeitung „Die Presse“, über gesellschaftlichen Zusammenhalt, Migration und die Herausforderungen bei der Integration von Flüchtlingen in Europa.
Werte- und Orientierungskurs: „Es gibt viele Angebote, nutzen Sie sie!
Im Rahmen des Werte- und Orientierungskurses, an dem 20 arabischsprachige, großteils aus Syrien stammende Flüchtlinge teilnahmen, sprach der Historiker über wichtige Voraussetzungen für das Zusammenleben: „Für mich ist das klar: Neuankömmlinge sind gefordert, sich auf einen gemeinsamen Alltag einzulassen und Kontakte zu knüpfen. Nur über den Alltag kann Integration funktionieren.“ Den Flüchtlingen riet er: „Fragen Sie nicht, was Österreich für Sie tun kann, sondern fragen Sie sich, was Sie für dieses Land tun können, und nutzen Sie die vielen Angebote, die Sie hier geboten bekommen.“ Wolffsohn führt selbst mit der „Gartenstadt Atlantic“, einer 50 Häuser umfassenden Wohnanlage in Berlin-Gesundbrunnen, ein Bildungs- und Integrationsprojekt, das sich für den jüdisch-muslimischen Dialog einsetzt. „Man muss sich nicht immer sympathisch sein, aber die Würde jedes Einzelnen und Gewaltlosigkeit sind die zentrale Basis unseres Zusammenlebens“, erläuterte Wolffsohn.
Diskussion: „Freiheit bringt Selbstverantwortung“
Diese fundamentalen Werte seien auch die Basis der Regeln des Zusammenlebens, so Wolffsohn im Podiumsgespräch mit „Presse“-Chefredakteur Rainer Nowak: „Zu unseren westlichen Werten gehört das, was in der Unabhängigkeitserklärung der USA steht: Leben, Freiheit und das Streben nach Glück. Staat und Gesellschaft müssen diese Grundwerte sichern. Die Freiheit in unserer Gesellschaft bringt aber auch die Verantwortung für jeden Einzelnen, diese zu nutzen.“ Insbesondere die Geschichte der jüdischen Gemeinschaft zeige, dass Werte wie Leistungsbereitschaft und Eigeninitiative einen entscheidenden Beitrag für das Gelingen der Integration einer Minderheit leisten. „Muslime können – wie es auch Juden in ihrer Geschichte getan haben – die Vorteile der ökonomischen Funktionalität nützen. Sie sollen sich Bildung und berufliche Fähigkeiten aneignen und so in alle Bereiche der Gesellschaft vordringen.“
Vielvölkerstaat der Habsburger als Positivbeispiel
Auf die Frage, welche Regeln und Gesetze für das Funktionieren einer pluralistischen Gesellschaft in der Praxis notwendig seien, verwies Wolffsohn auch auf das positive Vorbild der Habsburger-Monarchie Österreich-Ungarn. „Wenn heute über Minderheiten gesprochen wird, dann redet man selten über das Positivbeispiel der Spätphase des Vielvölkerstaates der Habsburger-Monarchie, die als Vorbild dienen könnte“, so der Historiker. „Hier herrschte ein Bewusstsein vor, dass der Vielvölkerstaat erhaltenswert sei. Und dementsprechend wurde gehandelt: Auf Minderheiten wurde Rücksicht genommen, jedoch gab es allgemeingültige Gesetze und Regeln, an die sich alle Mitglieder der Gesellschaft zu halten hatten. Solche Regeln braucht es in jeder Gesellschaft.“
Diese Art der Politik – geprägt von Regeln, aber auch Toleranz – habe großartige Leistungen im Bereich von Kunst und Kultur hervorgebracht, so Wolffsohn. „Allein das zeigt, dass es Modelle aus der Vergangenheit gibt, an denen wir auch für die Gegenwart und insbesondere für die Herausforderungen der Zukunft des Zusammenlebens Anleihe nehmen können und sollten“, mahnte der Historiker
„Muslimischer Antisemitismus als große Gefahr in Europa“
Michael Wolffsohn, der selbst in Israel geboren und in Deutschland aufgewachsen ist, betonte vor dem Hintergrund der starken Migration aus muslimischen Ländern die steigende Gefahr des muslimischen Antisemitismus in Europa: „Für die jüdische Gemeinschaft geht derzeit die größte Gefahr nicht von rechten Parteien, sondern von einer aktiven Minderheit innerhalb der muslimischen Minderheit aus.“ Er forderte, dass die muslimische Gemeinschaft sich klarer gegen antisemitische Diskriminierung und Gewalt positionieren müsse: „Wenn Muslime nicht mit einem rückwärtsgewandten, negativen Image assoziiert werden wollen, müssen sie innerhalb ihrer Gemeinschaft dafür eintreten, dass jegliche Gewalt verboten ist. Diese Weiterentwicklung kann nur von innen heraus passieren.“
Auch in Bezug auf die Diskussion über das geplante Kopftuchverbot in Kindergärten und Schulen positionierte sich Wolffsohn entschieden und forderte eine sachlichere Debatte vonseiten der muslimischen Gemeinschaft: „Wenn die muslimische Identität nur vom Kopftuch abhängt, dann steht es um sie sehr schlecht. Hier braucht es eine Weiterentwicklung: Denn wenn ich nur auf alte Traditionen zurückschaue, versteinere ich.“
Gesprächsreihe „Perspektiven Integration“
Mit der Veranstaltungsreihe „Perspektiven Integration“ stellt der ÖIF Fragen des Zusammenlebens, der Identität, Kultur und Religion in den Mittelpunkt und lädt dazu internationale Expert/innen nach Wien ein. Weitere Veranstaltung der Reihe sind für Sommer und Herbst 2018 geplant. Alle Informationen dazu finden Sie unter <link http: www.integrationsfonds.at veranstaltungen>www.integrationsfonds.at/veranstaltungen