ÖIF-Podiumsgespräch „Von Grenzen und Nachbarn“ – Soziologe Roland Girtler über Kultur und Zusammenhalt

Soziologe Roland Girtler (rechts) im Gespräch mit Heinz Sichrovsky. © Mila Zytka

v.l.n.r: Edwin Schäffer (ÖIF), Moderator Heinz Sichrovsky, Roland Girtler und Dr. Herbert Anderl (Aufsichtsratsvorsitzender ÖIF). © Mila Zytka

Roland Girtler sprach über Randkulturen und ihre Besonderheiten. © Mila Zytka
Auf Einladung des Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF) sprach Soziologe Roland Girtler am 5. April 2022 im Auditorium des Leopold Museums mit Kulturjournalist Heinz Sichrovsky (News, ORF III) über Randkulturen und was sie ausmacht, warum Menschen Angst vor Fremden empfinden und warum teilnehmende Beobachtung unerlässlich ist, um wirklich etwas über andere Personen und Kulturen zu erfahren. Der von Moderator Heinz Sichrovsky als „Meister der Randkulturen“ bezeichnete Soziologe und Kulturanthropologe Girtler bekam in seiner Laufbahn nicht nur die Gelegenheit, den Polizeidienst hautnah mitzuerleben, sondern beobachtete auch Ganoven, Wilderer, Schmuggler, Glücksspieler, Zuhälter, Prostituierte, Obdachlose und Gefängnisinsassen – typische Randgruppen der Gesellschaft.
Erstkontakt zu Ganoven
Ein Unfall mit einem Motorroller zwang Girtler 1961 für vier Monate in einen Spitalssaal des Wiener AKH, in dem er mit 24 Leuten aus den unterschiedlichsten sozialen Schichten in Kontakt kam. „Da bin ich neben interessanten Leuten zu liegen gekommen“, beschreibt er die Initialzündung seiner teilnehmenden Beobachtung, der er während seiner langen Forschungskarriere stets treu blieb. Ein Zuhälter legte einer „bösen Krankenschwester“ überzeugend nahe, Girtler, der ihr mit liegend heilenden Knochenbrüchen hilflos ausgeliefert war, netter zu behandeln, was prompt Wirkung zeigte. Das war Girtlers erster Kontakt zur Randkultur der Ganoven, und der Retter von damals „ist heute noch mein Freund.“
Randkulturen – eine Definition
In seinem 1995 erschienenen Buch „Randkulturen: Theorie der Unanständigkeit“ nimmt Girtler Bezug auf die Unterschiede menschlicher Existenz: „Die Existenz von Randkulturen verweist auf die Buntheit menschlichen Lebens und auch darauf, dass menschliche Gesellschaften nichts Einheitliches sind. Diese bestehen aus einer Vielzahl von Gruppen, die alle ihre eigenen Kulturen mit speziellen Symbolen, wie eine wissenschaftliche Geheimsprache oder eine typische Tracht, und mit Ritualen, wie die Schlachtgesänge der Fußballfans, haben.“ Stigmatisierte und von der Norm abweichende Gruppen bezeichnet Girtler als Randgruppen oder Randkulturen.
Typisch für Randkulturen sei eine gemeinsame Sprache oder ein spezieller Dialekt, eine eigene Art von Humor und ein Ehrenkodex, den es auch unter Gefängnisinsassen gebe. In Randkulturen werden Strategien zum Überleben weitergegeben; man lerne in Randkulturen, wie man sich erfolgreich durchschlägt, so Girtler. Er unterscheidet zwischen den Unterkategorien der Randkultur der Revolution und Rebellion, des illegalen oder verpönten Geschäfts und der Randkultur der gemeinsamen Herkunft. Letztere zeichne sich dadurch aus, dass ihre Mitglieder durch Zugehörigkeit zu einer Sprach- oder Kulturgemeinschaft miteinander verbunden und aneinander gebunden seien. Als Vertriebene, Flüchtlinge oder Emigranten suchten sie zueinander Kontakt, um geschickt und mit Würde zu überleben.
Integration und das Fremde
Nach dem Soziologen Georg Simmel sei ein Fremder jemand, der „heute kommt und morgen bleibt“. Durch das Anderssein stellen der oder die Fremde die bestehende Kultur in Frage, erklärte Girtler. „Integration kann man nicht von oben verordnen. Man muss die Menschen anregen, sich kennenzulernen und aufeinander zuzugehen, denn dann sind sie keine Fremden mehr.“
Über Roland Girtler
Roland Girtler, geboren 1941 in Wien Ottakring, ist österreichischer Soziologe, Schriftsteller und Kulturanthropologe. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kultursoziologie, Randkulturen und die Bauernschaft in Österreich. Der emeritierte Professor der Universität Wien beschäftigte sich unter anderem mit Burschenschaften, dem Rotlichtmilieu und der Wilderei. Er betrieb jahrzehntelang Feldforschung in vielen Ländern und stellte „Die 10 Gebote der Feldforschung“ auf. Er ist Mitglied der Österreichischen Gesellschaft für Ur- und Frühgeschichte, erhielt das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst (2002) sowie den Preis der Stadt Wien für Volksbildung (2014). Girtler hat zahlreiche Bücher geschrieben, unter anderem „Über die Grenzen. Ein Kulturwissenschaftler auf dem Fahrrad“ (1991), „Randkulturen: Theorie der Unanständigkeit“ (1995), „Wilderer: Rebellen in den Bergen“ (1998), „Rotwelsch: Die alte Sprache der Gauner, Dirnen und Vagabunden“ (1998) und „Abenteuer Grenze. Von Schmugglern und Schmugglerinnen, Ritualen und ‚heiligen‘ Räumen“ (2006).