01.07.2020, 15:01 Uhr

Peter Sloterdijk bei ÖIF-Podiumsgespräch: "Die Corona-Pandemie macht Bedeutung des Gemeinsamen zum prioritären Motiv"

Philosoph Sloterdijk im Gespräch mit Kulturjournalist Sichrovsky über die Krise und die Auswirkungen der aktuellen Corona-Pandemie auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt

Podiumsdiskussion mit Peter Sloterdijk

ÖIF-Direktor Franz Wolf (r.) sprach Begrüßungsworte zu Beginn der Podiumsdiskussion. ©Superberg

Peter Sloterdijk

Der Philosoph Peter Sloterdijk sprach über das Verhältnis von Krise und gesellschaftlichem Zusammenhalt. ©Superberg

Heinz Sichrovsky und Peter Sloterdijk

Im Gespräch mit Heinz Sichrovsky thematisierte Peter Sloterdijk auch das Thema Solidarität und die Entwicklung von Gegengesellschaften. ©Superberg

Am 30. Juni sprach der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk gemeinsam mit Kulturjournalist Heinz Sichrovsky (News, ORF III) im Wiener Leopold Museum über das Verhältnis von Krise und gesellschaftlichem Zusammenhalt, Solidarität sowie über die Entwicklung von Gegengesellschaften und den Umgang damit. Das Podiumsgespräch wurde per Livestream auf der ÖIF-Website übertragen und steht zum Nachsehen auf www.integrationsfonds.at/mediathek zur Verfügung.

Krisen befördern “Poesie der Resilienz“
„Schon in Zeiten der florentinischen Pest im 14. Jahrhundert hat sich gezeigt, dass Pandemien durch die mit ihnen verbundenen Einschränkungen das soziale Gefüge auflösen, aber auch, dass sich dadurch neue soziale Bande bilden“, betonte Peter Sloterdijk. Es entwickle sich in solch ungewöhnlichen Krisenzeiten nicht nur eine größere Solidarität unter den Menschen selbst, sondern auch eine Art kollektive ‚Poesie der Resilienz‘: „Am Höhepunkt größter Verzweiflung werden auch immer Geschichten vom Überleben widrigster Umstände erzählt. Ein Zeugnis von der Tendenz des Willens immer am Leben bleiben zu wollen.“ Dieser ursprüngliche Kontakt von Intelligenz, ‚Savoir Vivre‘ und Schlagfertigkeit mache das Zusammenleben europäischer Gesellschaften. Diese ursprüngliche Vernunft sei das europäische Motiv, das dem gemeinsamen Leben zu Grunde liegt: „Wir haben quasi einen gemeinsamen Vertrag auf Basis dieses Vernunftsrechts geschlossen um uns gegenseitig bei einem guten Leben zu helfen. Aus Krisen, wie etwa zuletzt die Corona-Pandemie, kann selbstverständlich auch etwas entstehen, das diesen Gesellschaftsvertrag neu formuliert“, so Sloterdijk. Der Lockdown sei „ein kollektives Experiment“, dessen Ergebnisse sich erst zeigen müssen. Diese seien aber sicherlich nicht nur negativ, wie sich an der aufkeimenden Solidarität unter den Menschen zeigt.

„Immunität ist in Krisenzeiten ein Gemeinschaftsprojekt“
Insbesondere die individuelle Freiheit und das kollektive Motiv stünden sich in Krisenzeiten entgegen: „Wenn sich bei der Corona-Pandemie etwas deutlich gezeigt hat, dann, dass die individuelle Immunität per se nichts wert ist. Immunität eines einzelnen ist kein anzustrebendes Ziel alleine. Es ist ein Gemeinschaftsprojekt – langfristig gesehen. Allein der Begriff „Herdenimmunität“ drückt dies bereits aus. Und die Arbeit am Gemeinsamen, an dieser gemeinsamen Immunität, wird ein prioritäres Motiv werden. Da kann der Mensch noch etwas dazulernen“, führte Sloterdijk aus. Dass die individuellen Einschränkungen zur Verhinderung einer kollektiven Ausbreitung des Virus von vielen Menschen als Einschnitt in die Grundrechte und die individuelle Freiheit gesehen werden, sei durchaus kritisch zu reflektieren: „So gesehen gibt es mitunter ein ‚Grundrecht auf Selbstschädigung‘. Alleine wenn wir auf die Geschichte der Homöopathie zurückblicken, wo die Idee des Selbstversuchs entwickelt wurde. Freiheit hat an diesem Punkt also per se keine Grenze. Jedoch wissen wir wiederum, dass es kein Recht gibt, andere Menschen unnötige Gefährdungen anzutun.“ Das Gemeinsame, die kollektive Immunität, müsse hier das höhere Ziel sein: „Wenn wir beim Begriff der Herdenimmunität bleiben, ist die Politik in der Funktion als Hirte gefragt, um hier zu lenken.“

„Verschwörungstheorien geben Gefühl andere im Irrtum zu wissen“
Mit Krisenzeiten, die den Menschen Einschränkungen abverlangen, sind auch Gegennarrative sogenannter Verschwörungstheorien verbunden. Diese seien aus Sicht des Philosophen Sloterdijk Flucht in Vereinfachung: „Es ist doch ein ungeheurer Genuss, alle anderen im Irrtum zu wissen und selbst eine klare Erklärung zu haben – dieses Gefühl der vermeintlichen Überlegenheit katapultiert Menschen buchstäblich ins Weltall.“ Verschwörungstheorien seien vielmehr eine Verfallsform der metaphysischen Denkweise und haben tiefsitzende Wurzeln: „Ihnen liegt die Grunderzählung des jüdisch-christlichen Weltbildes zugrunde, nämlich, dass die Menschen eigentlich für das Paradies gemacht waren und dann verbannt wurden. Seither leben sie in einer ontologisch ungeregelten Situation und haben dann so viel Unglück angehäuft, dass sie erlöst werden müssen.“

„Geschichte auszulöschen macht sie nicht ungeschehen“
Neben einer globalen Epidemie halten auch kulturelle und gesellschaftliche Entwicklungen, wie etwa das Aufkommen von globalen Protestbewegungen und Gegengesellschaften das Weltgeschehen in Bewegung und erzeugen globale Spannungen. Für Peter Sloterdijk kann man durch das Löschen von Geschichte diese nicht ungeschehen machen: „Wenn junge Menschen nun Denkmäler stürzen, empfinden sie das wohl als Bereinigen der Geschichte. In Wirklichkeit wird sie aber nicht verändert, sondern nur die Reaktion darauf, denn: Geschichte wird so nicht umgeschrieben, sondern gelöscht.“ Dieses Stürzen und Löschen sei auch die Grundfrage des Nihilismus: „‘Stürzen wir nicht fortwährend, wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont auszulöschen?‘ ist die berühmte Frage. Dieses „mit dem Schwamm hinweggehen“ ist in den Stürzen der Denkmäler heutzutage mit enthalten“, warnt Sloterdijk.

„Nationalismus kreiert durch Missbrauch des historischen Gedächtnisses falsche Identitäten“
Neben diesen globalen Veränderungen sei auch die Entwicklung und das Zutagetreten von migrantischen Gegengesellschaften in Europa und insbesondere jüngst in Österreich genau zu beobachten: „Viele Konflikte unter Bevölkerungsgruppen, wie etwa jüngst in Wien sichtbar, werden in der Diaspora oft stärker als am Ursprungsort. Diese sollten prinzipiell auch stattfinden dürfen, denn es ist Teil des demokratischen Spiels. Jedoch müssen Gruppen da getrennt werden, wo es gefährlich wird“, betont Sloterdijk. Oftmals bieten nationalistische Narrative gerade jungen Menschen, ohne große Verbindung in das Herkunftsland der Eltern, Richtung: „Grundsätzlich sind die Überzeugungen und Motivationen eines Menschen vage. Junge Menschen bekommen mit nationalistischen Narrativen Identitätsgebilde geliefert, denn per se weiß der Mensch nicht wer er ist.“ Darin liege eine große Gefahr: „Nationalismus missbraucht das historische Gedächtnis und kreiert so falsche Identitäten in zuvor unverletzten Seelen.“ Für Sloterdijk kann das Zusammenleben dann gelingen, wenn kein solch gebrochenes Verhältnis zur Identitätspflege vorliege und das Positive über kollektive Negativerfahrungen gestellt werde: “Nationen sollten ihre Liberalismen und Lebenskünste austauschen und ihre Identität an dem festmachen, das sie liebenswürdig macht und nicht an Traumata.“

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