27.04.2016, 10:01 Uhr

Vom Flüchtling zum Nachbarn 04/2015

Viele Gemeinden nehmen derzeit erstmals Flüchtlinge auf. Wie deren Integration gelingen kann, hat ZUSAMMEN:ÖSTERREICH im niederösterreichischen Pöchlarn nachgefragt.

© www.weinfranz.at

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Eins, zwei, drei, vier ...", beginnt Qasim Azizi zu zählen. "Zehn, elf, zwölf, dreizehn ...", setzt Maisan Hanach fort. Azizi stammt aus Afghanistan, Hanach aus Syrien. An diesem Novembervormittag sitzen sie, Stifte in der Hand und Lehrbücher vor sich, im ehemaligen Gemeinde-Kindergarten von Pöchlarn an der Donau. Die deutschen Zahlen zu lernen ist für Azizi und Hanach ein Schritt auf dem Weg in ein neues Leben. Vertrieben von kriegerischen Konflikten in ihren Herkunftsländern, finden sie seit dem Sommer in der niederösterreichischen Kleinstadt Schutz.

Herausforderung Deutsch

"Erst heute sind zwei neue Teilnehmer aus Afghanistan in den Kurs dazugekommen. Sie haben gleich genauso motiviert mitgemacht wie meine anderen Schüler", freut sich Hadmut Rille-Eiler. Die pensionierte

Lehrerin leitet den Deutschkurs in ihrer Freizeit. Es ist einer von insgesamt drei Kursen, den die engagierten Bürger des Sozialen Netzwerks Pöchlarn für die rund 25 Flüchtlinge organisieren, die ihre Stadt im Sommer erstmals aufgenommen hat. Viele sind pensionierte Lehrerinnen und Lehrer, aber auch Hausfrauen, Studierende und ein Techniker sind dabei. "Meine Gruppe ist die am weitesten fortgeschrittene", sagt Rille-Eiler. "Alle Teilnehmer sind wirklich fleißig. Ich habe selbst mit über fünfzig noch Französisch gelernt - ich weiß, wie schwer das als Erwachsene ist." Maisan Hanach beschäftigen derzeit vor allem die deutschen Artikel. Lachend zuckt sie die Schultern und fragt: "Warum hat ein Tisch oder eine Tasse ein Geschlecht?" Beim Üben der Sprache unterstützen sie ihre beiden Söhne, die in Pöchlarn in die Schule gehen. "Sie lernen viel schneller als ich und wollen inzwischen, dass ich Deutsch mit ihnen spreche." INFOS FÜR BÜRGERMEISTER Wie Pöchlarn haben heuer viele kleinere und mittelgroße Gemeinden erstmals Flüchtlinge aufgenommen. "Etliche Kommunen sind jetzt zum ersten Mal mit der Frage der Integration konfrontiert", sagt Eva Grabherr. "Für die ist das Thema wirklich neu." Grabherr ist Mitglied im Expertenrat für Integration und unterstützt seit Jahren Vorarlberger Gemein- den im Integrationsbereich. Aktuell ist sie auch in anderen Bundesländern unterwegs, etwa um Gemeinden mit neuen Flüchtlingsquartieren zu beraten. Was Bürgermeister brauchen, für die das Thema neu ist, weiß Grabherr aus Erfahrung. "Sie stellen sich meist die Frage: Integration, was heißt das überhaupt? Ich erläutere daher zuerst, auf welchen Ebenen Maßnahmen wichtig sind." Zentral seien etwa Deutschkenntnisse, der Einstieg in den Arbeitsmarkt, das Wohnen oder die soziale Integration, also Begegnung zwischen Flüchtlingen und Einheimischen. In vielem können Freiwillige gut unterstützen, die Gemeinde braucht es aber koordinierend. Dasmache sich bezahlt, denn gut verzahnte Maßnahmen stärkten einander automatisch. "Ein guter Sprachkurs verbessert auch den Kontakt zwischen Flüchtlingen und Bevölkerung, und umgekehrt." Einen besonders großen Mehrwert haben Freundschaften mit Einheimischen, weiß Grabherr aus Erfahrung: "Das hilft bei der Wohnungssuche, aber auch für die Stimmung in der Bevölkerung. Vorurteile verschwinden am besten über Kontakt."

"Man sagt hier viel öfter Bitte und Danke als in Syrien. Das ist sehr höflich, ich mag das." Maisan Hanach, aus Syrien geflohen

Hilfe zur Selbsthilfe

Aufnahme, Erstversorgung, Unterbringung: Diese Aufgaben seien bisher im Vordergrund gestanden, sagt Franz Wolf, Geschäftsführer des Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF). "Aber die Integration der Flüchtlinge ist die langfristige Herausforderung, die gerade erst beginnt. Ziel ist, dass Flüchtlinge möglichst bald ein selbstständiges Leben in Österreich führen. Dafür braucht es auch Unterstützung: zum Deutschlernen und für die rasche Integration am Arbeitsmarkt." Deutsch lernen - das steht auch für die Österreicher bei der Flüchtlingsintegration an erster Stelle, wie Umfragen zeigen. Für ebenfalls wichtig halten sie die Anpassung der Lebensweise und die Identifikation mit den hierzulande üblichen Werten. Doch was heißt das in der Praxis, etwa in Pöchlarn?

Workshops zur Orientierung

"Wir sagen unseren Flüchtlingen gleich zu Beginn, welche Gepflogenheiten es hier gibt", sagt Helene Bergner, Sprecherin des Sozialen Netzwerks Pöchlarn und Gemeinderätin. "Das sind simple Dinge, etwa dass man im Sommer nach halb zehn Uhr draußen möglichst nicht mehr laut sein sollte", sagt Bergner. "So beugen wir Konflikten vor. Bislang gab es keine einzige Beschwerde über unsere Flüchtlinge." Für die Syrerin Maisan Hanach waren viele Umgangsformen in Österreich neu. "Ich musste mich erst daran gewöhnen, dass man hier öfter Bitte und Danke sagt als in Syrien", erzählt sie. "Das ist sehr höflich, ich mag das." Wissen über die Trennung von Religion und Staat oder die Gleichberechtigung von Mann und Frau erhalten Flüchtlinge nun in neuen Orientierungsworkshops. "Wer dauerhaft in Österreich bleibt, hat viele Chancen, es gibt aber auch klare Regeln, die es zu beachten gilt", sagt Geschäftsführer Franz Wolf. "Die Workshops vermitteln den Flüchtlingen ein konkretes Bild davon, wie das Zusammenleben in Österreich funktioniert."

"Ziel ist, dass Flüchtlinge möglichst bald ein selbstständiges Leben in Österreich führen." Franz Wolf, ÖIF-Geschäftsführer

Sprachförderung für Kinder

Für Kinder und Jugendliche ist die Schule der Ort, an dem Integration tagtäglich stattfindet. "Wir haben derzeit sieben Flüchtlingskinder in unseren Klassen", sagt Thomas Krancan, Direktor der Pöchlarner Volksschule. Die Anforderungen an die Pädagogen sind unterschiedlich: "Manche haben ein großes sprachliches Talent und Englischvorkenntnisse, sie lernen schnell dazu", erklärt Krancan. Andere müssten erst die lateinische Schrift lernen oder hätten gar noch nie ein Schulheft in der Hand gehabt. "Je älter ein Kind, desto schwieriger ist es, so einen Rückstand aufzuholen", weiß Krancan. "Der Unterschied im Sprachniveau zu den Muttersprachlern wird mit jedem Jahr größer." Sieben Kinder, die maßgeschneiderte Unterstützung benötigen - wie schafft die Volksschule Pöchlarn das? "Wir haben derzeit eine junge Kollegin, die sich als Stützkraft ausschließlich um die Deutschförderung kümmern kann", sagt Krancan. "Ohne sie wäre es weit schwieriger." Die Schüler selbst seien eifrig bei der Sache, lobt der Direktor. "Sie sind alle sehr brav, wir hatten bisher keinerlei Konflikte. Wenn ich mir vorstelle, was die Kinder auf der Flucht alles erlebt haben müssen, bin ich ganz erstaunt, wie gut sie sich bei uns eingliedern."

"Manche Kinder lernen schnell dazu, andere hatten noch nie ein Schulheft in der Hand." Thomas Krancan, Direktor Volksschule Pöchlarn

"Da gab's Aufregung im Ort"

Förderunterricht für die Kinder, Sprachkurse für die Erwachsenen, berufliche Integration und Wertevermittlung sind große Aufgaben für sich. Doch viele Bürgermeister beschäftigt vor allem eines: die Skepsis in der eigenen Bevölkerung. "Als bekannt wurde, dass Flüchtlinge nach Pöchlarn kommen, gab's große Aufregung im Ort", erzählt Gemeinderätin Helene Bergner. Das Blatt gewendet habe eine vom Bürgermeister organisierte Infoveranstaltung, die viele Ängste ausräumen konnte. "Dort war ein Großteil der Wortmeldungen positiv. Diejenigen, die nur streiten wollten, waren klar in der Minderheit. Das hat eine gute Basis geschaffen." Heute, so Bergner, sei die Stimmung in Pöchlarn gut. "Wir bekommen so viele Sachspenden, dass wir im Moment nichts Neues annehmen können."

Bevölkerung in Sorge

Expertin Eva Grabherr war bei vielen Infoveranstaltungen in Gemeinden - und hat dabei ganz ähnliche Erfahrungen gemacht wie Helene Bergner in Pöchlarn. "Die Mehrheit ist konstruktiv eingestellt und will helfen, verspürt aber ein Unbehagen. Diese Menschen sehen jeden Tag die Fernsehbilder von den Grenzen und fragen sich: Schaffen wir das wirklich?", sagt Grabherr. Auch Umfragen bestätigten, dass beim Thema Flüchtlinge Sorge - und nicht etwa Wut - das vorherrschende Gefühl in der Bevölkerung sei. "Wenn es gelingt, der unsicheren Mehrheit diese Sorge zu nehmen und sie zu überzeugen, sich aktiv an der Integration zu beteiligen, dann ist diese auch zu schaffen."

Falsche Erwartungen

Einer, der es bereits geschafft hat, ist Ramin Nouri. Erst sechzehn Jahre war er alt, als er alleine aus Afghanistan nach Österreich kam. "Ich kannte niemanden, hatte noch nie eine Schule besucht", erzählt er. In Österreich holte er den Hauptschulabschluss nach und schaffte die Lehre als Elektriker, ohne ein Jahr wiederholen zu müssen. "Mein Glück ist, dass ich die richtigen Leute getroffen habe, die mir den Weg gezeigt und mich unterstützt haben", sagt Nouri. "Und ich habe einfach nicht aufgegeben, auch wenn ich Rückschläge erlebt habe." Seine Erfahrungen gibt der heute ausgelernte Elektriker an seinen Nachfolger weiter, ebenfalls ein afghanischer Flüchtling. "Ich sage ihm: Du musst dich anstrengen, dann kannst du's schaffen." Auch gerade erst ankommende Flüchtlinge unterstützt Nouri. "An freien Abenden gehe ich an die Bahnhöfe, um zu übersetzen und den Leuten Tipps zu geben", erzählt er. "Leider haben sie oft falsche Erwartungen und glauben, dass in Österreich der Staat alles bezahlt." Derartige Geschichten über Europa seien in den Herkunftsländern weit verbreitet. "Auch mir wurde auf dem Weg nach Österreich erzählt, dass ich hier automatisch Arbeit, Auto und Wohnung bekommen würde. Mir ist aber schnell klar geworden, dass die Menschen hart für alles arbeiten.Den Flüchtlingen erkläre ich, dass das System nur funktioniert, wenn alle etwas beitragen", sagt Nouri.

"Ich erkläre den Flüchtlingen, dass das System hier nur funktioniert, wenn alle etwas beitragen." Ramin Nouri, früher Flüchtling, heute Elektriker

Alle tragen Verantwortung

Der Staat, der alles lösen soll? Auch Helene Bergner aus Pöchlarn kennt diese Vorstellung, wenn auch von anderer Seite. "Viele meinen, der Staat würde nicht genug für die Flüchtlinge tun", sagt sie. "Ich halte es aber für falsch, die ganze Verantwortung abzuwälzen. Auch ich bin Teil meines Staats, meiner Gemeinde, meiner Pfarre. Wir tragen alle dazu bei, wie gut das Zusammenleben funktioniert." Weltpolitische Probleme, die Menschen zur Flucht zwingen, könne man klarerweise nicht lösen. "Aber wir können denen helfen, die zu uns kommen", meint Bergner. "Meine Einstellung ist: Wir sollten auch in zehn Jahren dazu stehen können, was wir heute getan oder nicht getan haben."

"Wir sollten auch in zehn Jahren dazu stehen können, was wir heute getan oder nicht getanhaben." Helene Bergner, Soziales Netzwerk Pöchlarn

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