Vorhang auf für ein neues Wir-Gefühl 04/2014



Die Klänge von Cello, Bratsche und Geige schwingen noch im Raum, als die vier Musiker sich für eine Pause im Zuschauerraum des Wiener Raimund Theaters niederlassen. "Es ist wirklich ein Privileg, an so einem Ort arbeiten zu dürfen", sagt die Geigerin Mirjam Nill. "Ja, dieses Land hat viel zu bieten", pflichtet Azis Sadikovic bei, der Dirigent. "Mozart, Beethoven, Strauß - überall, wo man hingeht, haben musikalische Größen gewirkt." Nill, Sadikovic und ihre Kollegen Irmelin Irene Aagaard Jansen, Cello, und Johann Ratschan, Bratsche, sind Mitglieder des Ensembles Wienklang. Die Palette des Jungmusiker-Orchesters reicht von Konzerten mit den Wiener Sängerknaben bis zum Life Ball.
Vielfalt als Normalfall
Die vier Musiker sind Vertreter der traditionsreichen österreichischen Hochkultur - doch drei von ihnen haben Wurzeln außerhalb der Alpenrepublik. "Das entspricht ungefähr dem Schnitt des gesamten Orchesters", sagt Sadikovic, Sohn eines Serben und einer Österreicherin. Jansen war von der Vielfalt der Klassikszene überrascht, als sie aus Dänemark zum Studium nach Österreich gekommen ist: "Ich habe anfangs Leute von überallher kennen gelernt, aber nur wenige Österreicher." Und Nill, die auf Sri Lanka geboren und als Kleinkind von Deutschen adoptiert wurde, schmunzelt: "Manchmal werde ich erstaunt gefragt, wo ich denn so gut Geige spielen gelernt hätte. Dabei habe ich doch in Wien studiert."
Jeder Fünfte ist Migrant
Nicht nur die Welt der klassischen Musik, auch die österreichische Gesamtgesellschaft wird immer vielfältiger: Der Anteil ausländischer Staatsangehöriger stieg von rund 2 Prozent in den 1960er Jahren auf 12,5 Prozent 2014. Sogar 19,4 Prozent haben einen Migrationshintergrund, also Eltern, die im Ausland geboren wurden. Jeder und jede Fünfte hat heute also internationale Wurzeln. Was macht angesichts dieser Vielfalt Österreich heute aus? Für die Bevölkerung sind vor allem Landschaft, Küche sowie Kunst und Kultur "typisch österreichisch" (siehe Wissen). Doch neben dem gesellschaftlichen hat jeder Mensch auch ein individuelles Selbstbild, erklärt Hilde Weiss, Soziologie-Professorin an der Universität Wien: "Soziale Normen und Rollenbilder sind ein wichtiger Teil der persönlichen Identität - und die unterscheiden sich zwischen Kulturen oft grundlegend. Damit müssen sich Migranten auseinandersetzen, das ist ein wichtiges Thema für sie."
Zweite Generation sucht Identität
Vor allem für die zweite Generation, also in Österreich geborene Kinder von Zuwanderern, sei die Identitätssuche oft nicht einfach, so Weiss. Auf der einen Seite stehe die Familie, die meist die Wertvorstellungen des Herkunftslands bewahren wolle. Auf der anderen Seite seien Freunde und Kollegen, unter denen häufig andere Normen gelebt würden. "Was unter Gleichaltrigen als Freizeitgestaltung oder Verhalten bei der Partnersuche normal ist, kann in der Familie verpönt sein", sagt Weiss. "Die zweite Generation muss sich aus diesen oft widersprüchlichen Elementen ihre eigene Identität bauen." Ein zentraler Baustein für die auf Sri Lanka geborene Mirjam Nill ist ihre Arbeit als Violinistin. "Ich habe hier in Österreich dank der Musik eine Heimat gefunden", sagt sie. "Was uns verbindet, ist das Ziel, das Publikum für zwei Stunden in eine andere Welt zu befördern", ergänzt Azis Sadikovic. Dieses gemeinsame Anliegen, meint der Dirigent, wirke über Muttersprachen, Hautfarben und kulturelle Hintergründe hinweg. "Egal, wo man herkommt, die Musik ist wie ein Anker."
Die Schule ist gefragt
Doch wie können junge Menschen ihren persönlichen Anker finden, zumal wenn sie den Erwartungen zweier Kulturen gerecht werden müssen? Vor allem die Schule könne sie dabei unterstützen, meint Hilde Weiss. "Im Unterricht sollte stärker diskutiert werden, was die Jugendlichen in ihrem Leben eigentlich interessiert", sagt die Soziologin. Das betreffe sowohl Grundlegendes wie die Chancen, die das Bildungssystem bietet, als auch Fragen, die die Jugendlichen aktuell bewegen, wie die Propaganda des sogenannten Islamischen Staats im Internet. Entscheidend sei dabei, so die Soziologin, dass der Umgang mit brisanten Themen nicht von oben herab gelehrt, sondern offen diskutiert werde: "Wir müssen die jungen Menschen dabei unterstützen, sich kompetent eine eigene Meinung zu bilden."
Konflikte schwächen Identifikation
Die Herausforderungen der Identitätssuche junger Menschen mit Migrationshintergrund kennt Shahla Tolloy aus erster Hand. Für den Verein Balu & Du organisiert die Jugendarbeiterin Freizeitangebote für Teenager in Wien- Simmering. "Für Jugendliche ist es heute der Normalfall, dass im Freundeskreis Leute unterschiedlicher Herkunft oder Religion sind", sagt Tolloy. "Das spielt im Alltag meist keine große Rolle - außer, wenn es zu Konflikten kommt. Dann kann es passieren, dass die Jugendlichen sich nach ethnischen oder religiösen Linien spalten, auch wenn der Auslöser des Streits gar nichts damit zu tun hatte." Konflikte dieser Art beeinflussen das Zugehörigkeitsgefühl zu Österreich negativ, betont die Soziologin Hilde Weiss." Die Jugendlichen erleben im Alltag verschiedene Diskriminierungen. Häufig haben sie das Gefühl, wegen ihrer Herkunft abgewertet zu werden." Diese Kränkung führe nicht automatisch dazu, dass sie sich stärker mit dem Ursprungsland ihrer Familie identifizierten. "Sie haben eher das Gefühl, nirgends dazuzugehören", sagt Weiss.
"Für Jugendliche ist es heute normal, Freunde unterschiedlicher Herkunft oder Religion zu haben. Shahla Tolloy, Jugendarbeiterin
Gemeinsamer Wert Menschenwürde
Wie wichtig es ist, dass Zuwanderer sich in Österreich heimisch fühlen, unterstreicht Zekirija Sejdini. "Das führt zu Zufriedenheit und verhindert Isolation", sagt der Professor für Islamische Religionspädagogik, der an der Universität Innsbruck islamische Religionslehrer ausbildet. Auch er sieht den Schlüssel für das Zugehörigkeitsgefühl von Zuwanderern im Bildungssystem. "Der islamische Religionsunterricht sollte die Gemeinsamkeiten mit anderen Religionen zum Thema machen. Das ist vor allem die Menschenwürde. Diesen Wert teilen Islam und Christentum", sagt Sejdini. Nur wer bestimmte Grundprinzipien teile, könne in Österreich einen Platz finden, meint der Theologe. Beispiele, wo das gelungen ist, holt aktuell die Initiative ZUSAMMEN:ÖSTERREICH #stolzdrauf vor den Vorhang. Erfolgreiche Zuwanderer erklären dabei, worauf sie in Österreich stolz sind - etwa auf Kunst und Kultur, den Rechtsstaat oder die Bildungschancen.
"Die Trennung zwischen Staat und Religion schützt gerade Minderheiten wie Muslime." Zekirija Sejdini, Professor für Islamische Religionspädagogik
Säkularismus schützt Muslime
Aktuell wird öffentlich diskutiert, ob der Islam mit der Trennung zwischen Staat und Religion, die in Österreich gelte, überhaupt vereinbar sei. "Der Säkularismus ist für Muslime kein grundsätzliches Problem, nur eine ungewohnte Situation", sagt der Theologe Sejdini. Sie kämen oft aus Staaten, wo Gläubige im Namen des Säkularismus unterdrückt würden. "In Österreich ist das ganz anders. Staat und Religion können einander hier nicht instrumentalisieren. Ihre Trennung schützt gerade Minderheiten wie Muslime." Die Vorteile des österreichischen Systems, so Sejdini, gelte es muslimischen Zuwanderern begreifbar zu machen.
Für ein neues Wir-Gefühl
Die neue Vielfalt wirkt auch auf das Selbstbild der Österreicher. "Für viele ist noch die Abstammung der entscheidende Punkt, um dazuzugehören: Wer aus einer deutschsprachigen Familie stammt, ist Österreicher", erklärt die Soziologin Hilde Weiss. Doch dieses Selbstverständnis ändere sich bereits, die Gesellschaft werde immer offener. Eine entscheidende Rolle auf dem Weg zu diesem neuen Wir-Gefühl könnten Identifikationsfiguren wie die Fußballer David Alaba und Marko Arnautovic spielen, meint Weiss: "Sie können dazu beitragen, dass unsere Gesellschaft sich als so vielfältig sieht, wie sie de facto ist - und damit unser Selbstbild ändern." Zurück bei den Musikern des Ensembles Wienklang wird klar, wie diese neue, bunte Identität funktionieren kann. "Für mich ist es selbstverständlich, Mitspieler verschiedenster Herkunft zu haben", sagt der aus Oberösterreich stammende Bratschist Johann Ratschan. Und Dirigent Azis Sadikovic ergänzt: "Wenn wir gemeinsam auf der Bühne stehen und alle ihr Bestes geben - da entsteht ein echtes Wir-Gefühl."