Zusammenhalt statt Entfremdung 01/2015

© www.weinfranz.at

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Meine Freunde kommen aus Indien, Afghanistan, Serbien ...", zählt Tasnim auf. Kurz überlegt die 15-Jährige, deren Familie aus Ägypten stammt, dann setzt sie fort: "Andere haben Wurzeln in Russland, dem Kosovo, der Türkei oder auf den Philippinen." An Tasnims Schule, dem Haydngymnasium in Wien-Margareten, ist Vielfalt ganz normal. "Wir kennen es gar nicht anders", bestätigt Isabella, eine Klassenkameradin serbischer Herkunft. Neun von zehn Schülerinnen und Schülern stammen aus Zuwandererfamilien.
Klasse diskutiert Anschläge
Als Anfang des Jahres junge Männer, die sich auf den sogenannten Islamischen Staat beriefen, in Paris mehrere blutige Terroranschläge verübten, war der Schrecken auch im Haydngymnasium groß. "Ich war schockiert", erinnert sich Maida, Schülerin mit bosnischen Wurzeln und islamischen Glaubens. "Ich dachte mir sofort, jetzt wird's wieder heißen: Die Muslime sind schuld." Am Tag nach den Anschlägen, erzählen die Schülerinnen, sei das Thema im Religions- und Geschichtsunterricht aufgegriffen worden. "Die Lehrerin hat uns nach unserer Meinung gefragt und wir haben diskutiert", erzählt Isabella. "Vor allem das Thema Meinungsfreiheit hat uns interessiert."
Muslimische Schüler in Sorge
Dass weltpolitische Ereignisse die Schüler beschäftigen, ist im sprachlich und kulturell bunte Haydngymnasium selbstverständlich, sagt Direktor Hans-Leopold Rudolf. "Gerade muslimische Schüler sorgen sich, für Dinge verantwortlich gemacht zu werden, für die sie nichts können und die sie nicht genau verstehen. Im Unterricht darüber zu reden hilft ihnen." Spannungen unter den Jugendlichen hätten die Anschläge keine ausgelöst, versichert er. Dennoch sei man wachsam und auch auf Schlimmeres vorbereitet: "Auf unserer letzten Lehrerkonferenz war Dschihadismus Thema. Es ist ja unsere Pflicht, aufzupassen und einzugreifen, wenn sich ein Schüler radikalisiert und wir das bemerken", sagt Direktor Rudolf.
Alarmzeichen für Lehrer
Welche Jugendlichen sind es überhaupt, die sich mit extremem Gedankengut ködern lassen? "Sie sind jung, 15 Jahre oder etwas älter, und kommen häufig aus sozial belasteten, marginalisierten Familien, die meist nicht streng religiös sind", sagt der Soziologe Kenan Güngör, Mitglied im Expertenrat für Integration. "Sie wenden sich plötzlich intensiv einer besonders rigiden Auslegung des Glaubens zu. Lehrer sollten darauf achten, ob Schüler beginnen, andere auf Basis religiöser Gebote zu maßregeln. Auch die starke Abwertung von Nicht- oder Andersgläubigen ist ein Alarmzeichen."
"Lehrer sollten darauf achten, ob Schüler beginnen, andere auf Basis religiöser Gebote zu maßregeln." Kenan Güngör, Soziologe
Unwissend, aber radikal
Nicht die Religion, sondern das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden und keine Chancen zu haben, ist die tiefere Ursache von Radikalisierung. Das bestätigt auch der Pädagoge und Extremismus- Experte Moussa Al-Hassan Diaw, der mit Betroffenen arbeitet: "Sie haben teilweise eine blanke Unwissenheit, was religiöse Inhalte betrifft. Wenn wir ihnen Quellentexte zeigen, die ihrer brutalen Ideologie widersprechen, reagieren sie oft erschrocken." Nur eine kleine Gruppe ist von Radikalisierung gefährdet, doch die daraus entstehende Vergiftung des Klimas trifft die gesamte Bevölkerung.
Debatte unter Muslimen gefordert
"Muslime werden heute häufig insgesamt als potenzielle Gefahr für die Gesellschaft gesehen", diagnostiziert Ednan Aslan, Professor für islamische Religionspädagogik an der Universität Wien. "Der Vorwurf lautet, dass ihre Religion schuld am Terror sei. Das greift natürlich zu kurz: Terror hat wirtschaftliche, soziale und persönliche Ursachen." Dennoch haben die Anschläge eine Debatte unter Österreichs Muslimen ausgelöst, bestätigt Aslan: "Hat diese Gewalt etwas mit dem Islam zu tun? Diese Frage müssen wir Muslime zulassen. Sie pauschal zu verneinen, löst das Problem nicht." Aslan fordert von der Community, ihr Verhältnis zu Österreich, seinen Werten und seinem Rechtssystem zu klären. "Wir müssen eine offene und lebendige Debatte darüber führen, wie wir einen Islam mit österreichischem Gesicht stärken können. Wenn uns das gelingt, wird das unser Zusammenleben langfristig verbessern."
Gegen Pauschalurteile wehren
Die innermuslimische Debatte begrüßt auch Carla Amina Baghajati, als Sprecherin der Islamischen Glaubensgemeinschaft auch Vertreterin des offiziellen Islam in Österreich. "Dieser Diskurs soll nicht hinter verschlossenen Türen stattfinden, sondern öffentlich." Sie gibt aber zu bedenken: "In den letzten Monaten ist ein starkes Misstrauen entstanden. Beleidigungen auf der Straße gab es in Österreich jahrzehntelang nicht. Aber seit den Anschlägen hat fast jeder Muslim, den ich kenne, so etwas erlebt." Die Haut vieler Muslime sei dünn geworden, berichtet Baghajati: "Selbstkritik ist schwierig, wenn man alle Hände voll zu tun hat, sich gegen Pauschalurteile zu wehren." Statt Sippenhaftung wünscht sie sich von der Mehrheitsbevölkerung, Muslime als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft zu betrachten. "Gerade junge Muslime müssen sich oft fragen lassen, wo sie 'wirklich' herkommen. Das erschwert es, sich als Teil Österreichs zu fühlen." Religionspädagoge Ednan Aslan hingegen sieht für eine Verbesserung des Zusammenlebens nicht die Mehrheitsgesellschaft, sondern die muslimische Community gefordert - konkret die islamischen Organisationen. "Sie haben lange ihre Position am Rand der Gesellschaft gepflegt. Bis heute gibt es in den Verbänden einen starken Einfluss aus dem Ausland", kritisiert Aslan. "Dabei habe ich Bauchweh. Auch viele Muslime in Österreich stört das." Verantwortung dafür trage auch die Mehrheitsgesellschaft, denn "sie hat die Belange der Muslime lange als ausländische Angelegenheiten betrachtet." Das gelte es zu ändern.
"Hat diese Gewalt etwas mit dem Islam zu tun? Diese Frage müssen wir zulassen." Ednan Aslan, Professor
für Religionspädagogik
"Gerade junge Muslime erleben oft, dass sie nicht als echte Österreicher wahrgenommen werden." Carla Amina Baghajati, Sprecherin der Islamischen Glaubensgemeinschaft
Medien fördern Entfremdung
Auch die mediale Debatte trägt zur Entfremdung zwischen Muslimen und Nichtmuslimen bei. Das beobachtet Yasemin Shooman, Rassismusforscherin in Berlin. "Wenn Kinder jeden Tag auf dem Schulweg am Kiosk Magazincover sehen, auf denen ihre Religion mit Gewalt in Verbindung gebracht wird, kann das Auswirkungen auf ihr Selbstbild haben", erklärt sie. Doch nicht nur über Terror, auch über Kriminalität und Arbeitslosigkeit werde häufig mit Verweis auf die Religion oder Kultur berichtet. Das sei inhaltlich meist nicht gerechtfertigt und fördere Vorurteile gegenüber Muslimen. Shooman empfiehlt Journalisten folgenden Selbsttest: "Ist überall Islam drin, wo ich Islam draufschreibe? Lege ich einen doppelten Maßstab an oder würde ich das beim Christentum auch so bewerten?"
"Journalisten sollten sich fragen: Ist überall Islam drin, wo ich Islam draufschreibe?" Yasemin Shooman, Rassismusforscherin
Gemeinsam für Menschenrechte
Die Situation ist herausfordernd, birgt für den Religionspädagogen Ednan Aslan aber auch eine Chance: "Wenn wir jetzt einen ehrlichen Dialog führen, können wir zu einem neuen Zusammenleben kommen. Muslime und Nichtmuslime sollten gemeinsam für demokratische Werte kämpfen, die Menschen-, Freiheits- und Frauenrechte verteidigen." Unterstützung kommt hier auch von Carla Amina Baghajati: "Nach den Anschlägen hieß es in Leitartikeln: ,Wir müssen jetzt mutig für unsere Werte eintreten.' Das klang unterschwellig so, als hätten Muslime andere Werte. Wir sind aber Teil dieses 'Wir', das für die Menschenrechte eintritt."
"Charakter, nicht Herkunft"
Wie der neue Zusammenhalt funktionieren kann, sieht man im Kleinen am Wiener Haydngymnasium, wo neun von zehn Schülern Wurzeln im Ausland haben. "Sicher gibt es manchmal Konflikte. Wenn wir die Balkankriege behandeln, kann es passieren, dass Serben und Kosovaren sich nicht ganz einig sind", erzählt Maida, selbst bosnischer Herkunft. "Aber das geht nie so weit, dass es unsere Freundschaft gefährden würde." Ihre Freundin Isabella, die aus einer serbischen Familie stammt, ergänzt: "Wir respektieren unterschiedliche Meinungen. Letztlich kommt es doch auf den Charakter an, nicht die Herkunft."