Neuer ÖIF-Forschungsbericht: Lebensrealitäten und Integration von Tschetschen/innen in Österreich
Im Auftrag des Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF) untersuchte das International Centre for Migration Policy Development (ICMPD) die Lebensrealitäten und den Stand der Integration von Tschetschen/innen in Österreich. Der Forschungsbericht gibt Einblick in die Lebenswelten und -perspektiven von vor allem jungen bzw. weiblichen Tschetschen/innen. Fokus liegt auf dem Einfluss verschiedener Faktoren wie Familie, Geschlechterrollen, Bildung und Arbeit auf die Integration von Tschetschen/innen in Österreich. Dem Forschungsbericht liegen qualitative Interviews mit vorwiegend Frauen tschetschenischer Herkunft sowie Gruppendiskussionen mit männlichen Jugendlichen tschetschenischer Herkunft zugrunde.
Gleichberechtigung: Festhalten an überliefertem Rollenbild von Mann und Frau
Für die Integration in Österreich sind insbesondere tief verankerte Muster und Verhaltensweisen der Tschetschen/innen herausfordernd. Aus diesen ergibt sich eine strikte Abgrenzung des Privaten und Öffentlichen, eine Geschlechtertrennung und ein patriarchales Familienmodell. Das äußert sich insbesondere in einem starken Verständnis von „Männlichkeit“: Tschetschenen sehen sich in der Verantwortung ihre Familie zu repräsentieren und diese zur Not auch gewaltsam zu verteidigen. Darüber hinaus erwarten sie von tschetschenischen Frauen ein aus ihrer Sicht sittliches Verhalten, was zum Beispiel das Einhalten ungeschriebener Bekleidungsvorschriften beinhaltet. Männliche Befragte sehen bei abweichenden Handlungen von Frauen zum Teil „erzieherisches Einwirken“ als angebracht und fühlen sich für deren Schutz verantwortlich.
Umbruch: Jüngere Generation beginnt traditionell-tschetschenische Lebensweisen und patriarchale Familienstrukturen zu hinterfragen
Diese patriarchalenStrukturen werden von der jüngeren Generation zum Teil aufgebrochen. Sie bemüht sich, einen Ausgleich zwischen sozialer Kontrolle, externen Erwartungen und persönlichen Zielen zu finden. Während bei der zweiten Generation deutlich mehr Vertrauen in den österreichischen Rechtsstaat und die Exekutive vorherrscht, zeigt sich bei den Älteren weiterhin eher Misstrauen gegenüber den Strukturen Österreichs. Zudem setzt sich vor allem die in Österreich sozialisierte Generation aktiv mit den familienbezogenen Prägungen auseinander. Jüngere Tschetscheninnen streben bei den eigenen Kindern eine veränderte Form der Erziehung an: Sie wollen, dass ihre Söhne auch im Haushalt mithelfen und ihren Töchtern mehr Freiheiten ermöglichen. Die zugenommene Selbständigkeit der Frauen der zweiten Generation wurde in dem Forschungsbericht wiederholt als zentrales Thema und Spannungsfeld zwischen alten und neuen Familienkonzepten hervorgehoben.
Bildung und Arbeitsmarkt: Herausforderungen bei Arbeitsmarktintegration von Tschetschen/innen
Statistiken zeigen Herausforderungen bei der Arbeitsmarktintegration von Tschetschen/innen. Die Bedeutung von Lehrausbildung und Schulabschluss werden vor allem von jungen Tschetschenen tendenziell eher geringer eingeschätzt, Konsequenzen für den weiteren Lebensweg werden dabei vielfach nicht oder wenig reflektiert. Positiv hervorzuheben ist, dass Erwerbstätigkeit von berufstätigen Teilnehmer/innen als wesentlicher Faktor für die Integration in Österreich verstanden wird. Die Teilnehmer/innen der Studie fühlen sich trotz einer vielfach starken Verbindung zur tschetschenischen Kultur als Teil der österreichischen Gesellschaft und betrachten Österreich auch als ihr Zuhause, die Lebensbedingungen und Chancen in Österreich werden geschätzt.
ÖIF-Unterstützungsangebote für tschetschenische Community
Aufgrund der tief verankerten patriarchalen Strukturen sind Unterstützungsangebote speziell für tschetschenische Frauen hilfreich für die Integration in Österreich. Der ÖIF bietet hierfür in den Integrationszentren bundesweit Seminare, Sprechstunden sowie Dolmetsch- und Unterstützungsangebote. Die Frauenzentren in Wien und Graz sind zudem Anlaufstellen für Frauen mit Flucht- und Migrationshintergrund und bündeln Angebote zu Themen wie Bildung, Arbeit, Selbstbestimmung, Gewaltprävention und Gesundheit. Der ÖIF bietet eine Reihe an Unterstützungsangeboten zum Arbeiten und Deutschlernen: Neben ÖIF-Karriereplattformen, die arbeitssuchende Teilnehmer/innen in ÖIF-Deutschkursen direkt mit Unternehmen mit Arbeitskräftebedarf verbinden, stellt der ÖIF Zuwander/innen auch Seminare und Sprechstunden mit Expert/innen zum Thema Berufs- und Bildungschancen zur Verfügung. Zudem bietet der ÖIF Mentoring-Programme wie KOMPASS und „Mentoring für Migrant:innen“ sowie Bewerbungstrainings und CV-Checks. Schulbesuche von ZUSAMMEN:ÖSTERREICH mit Integrationsbotschafter/innen haben das Ziel, Vorurteile schon im jungen Alter abzubauen und über Themen wie Chancen in Österreich, Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Geschlechter zu informieren.
Neu: ÖIF-Factsheet „Tschetschenische Bevölkerung in Österreich“
Zahlen, Daten und Fakten zu Tschetschen/innen in Österreich sind kompakt und übersichtlich in dem neuen ÖIF-Factsheet „Tschetschenische Bevölkerung in Österreich“ nachzulesen. Die Bevölkerung mit tschetschenischem Migrationshintergrund in Österreich wird auf 30.000 bis 40.000 Personen geschätzt. Tschetschen/innen gelten als Staatsangehörige der russischen Föderation, weswegen eine genaue Erhebung nicht möglich ist. Damit lebt in Österreich, nach Frankreich, aktuell die zweitgrößte tschetschenische Community Europas. Die meisten Tschetschen/innen sind während und nach dem zweiten Tschetschenienkrieg (1999-2009) als Flüchtlinge nach Österreich gekommen.
Interessierte können den Forschungsbericht „Tschetscheninnen und Tschetschenen in Österreich – Leben und Integration“ sowie das neue ÖIF-Factsheet „Tschetschenische Bevölkerung in Österreich“ kostenlos aus der ÖIF-Mediathek herunterladen.