Zusammenhalt im säkulär geprägten Staat: Lisz Hirn, Jörg Baberowski und Wolfgang Mazal bei ÖIF-Podiumsgespräch
Was hält eine Gesellschaft zusammen? Wie viel Zusammenhalt brauchen liberale Gesellschaften? Wie wirkt die Abfolge von Krisen, die wir seit Jahren erleben, auf den Zusammenhalt? Auf Einladung des Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF) und der Carl Friedrich von Weizsäcker-Gesellschaft diskutierten Philosophin Lisz Hirn, Historiker Jörg Baberowski und Sozialrechtsexperte Wolfgang Mazal am 20.September 2022 im Radiokulturhaus über den Zusammenhalt in liberalen Gesellschaften, Herausforderungen für erfolgreiche Integration sowie die Verantwortung des Staates und des Einzelnen für eine gelebte Demokratie. Moderiert wurde die Diskussion von Rudolf Mitlöhner, stellvertretender Ressortleiter Innenpolitik des Kurier.
Ausgangspunkt war das vielzitierte Diktum des deutschen Rechtsphilosophen und ehemaligen Bundesverfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Denn als freiheitlicher Staat könne er nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, aus der moralischen Substanz des Einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft reguliere. Dieses Dilemma zeige sich auch im Integrationsbereich, so die Expert/innenrunde.
Hirn: „Es gibt Menschenrechte, die der Staat garantieren kann, und Menschenpflichten, die der Bürger garantieren muss.“
Menschenrechte und -pflichten seien nicht isoliert voneinander zu betrachten, betonte Lisz Hirn: „Es gibt nicht nur Menschenrechte, die der Staat garantieren kann, sondern auch Menschenpflichten, die der Bürger garantieren muss.“ Das eine könne nicht ohne das andere verhandelt werden. Wolfgang Mazal betonte: „Wir sollten das Rechtssystem als ein Instrument von Freiheit sehen, aber viele Menschen begreifen Recht als Beschränkung.“ In einem Sozialstaat könnten auch Pflichten eingefordert werden. In der Frage des Wahlrechts sieht Mazal ebenfalls die Entscheidungsnotwendigkeit durch den Staat gegeben. Ab wann man das Wahlrecht erlangen solle, sei dabei eine wesentliche Frage, so Lisz Hirn, allerdings sei auch entscheidend, wer wählen dürfe. Es sei überdies zu klären, wem man die Ordnungsmacht zutraue: „Diese Frage wird in unterschiedlichen Regionen ganz unterschiedlich gesehen. In Europa sieht man dies als Aufgabe des Staats, in vielen Ländern jedoch als Aufgabe des religiösen Ordnungssystems. Die große Frage ist: Trauen wir unserem demokratischen System noch zu, dass es Ordnung schafft?“
Baberowski: „Sobald der Staat in Wertfragen zur Partei wird, werden andere diskriminiert.“
„Die Bandbreite dessen, was als wertvoll angesehen wird, ist in der heutigen Gesellschaft größer geworden“, sagte Jörg Baberowski. „Es kann aber nicht die Aufgabe des Staates sein, in Wertfragen zu entscheiden, denn sobald der Staat in Wertfragen zur Partei wird, werden andere diskriminiert.“ Die Freiheitsräume des jeweils anderen müssten respektiert werden, und wer das nicht beachte, solle den strafenden Arm des Staates zu spüren bekommen, erklärte Baberowski. Er sprach sich für eine Kultur des Nebeneinanders aus: „Unsere liberale Ordnung ermöglicht es uns, uns im Alltag mit höflicher Nichtbeachtung zu begegnen. Menschen können einander als Verschiedene begegnen, das kann funktionieren und nimmt den Stress – es ist jedenfalls besser, als Kriege gegeneinander zu führen.“ Lisz Hirn verwies darauf, dass die Gesellschaft zunehmend weniger homogen sei: „Wir müssen uns den vielen Konfliktpotentialen stellen und den Rahmen nachschärfen: Wie viel Gemeinsamkeit braucht es? Wieviel Toleranz kann man Intoleranz entgegenbringen? Wo muss der Staat eingreifen?“
Mazal: „Wir sind Teil eines Netzes, das nicht halten wird, wenn wir es nur konsumieren und uns nicht einbringen.“
Hirn plädiert für einen zivilisierten Diskurs in Politik und Gesellschaft: „Wo führen wir diese notwendigen Debatten und Wertediskussionen, auf welcher Bühne können wir einen zivilisierten Umgang miteinander proben? Und wer soll dafür Sorge tragen, dass dieser zivilisierte Diskurs geführt wird?“ Auch Wolfgang Mazal kritisierte, dass die politische Auseinandersetzung vielfach mehr auf die Vernichtung des Gegenübers denn auf einen echten Diskurs abziele und mahnte einen gemäßigten Umgangston an. Grundlage einer Wertediskussion sei Wissen, das auch Zuwanderinnen und Zuwanderern zu vermitteln sei. Mazal warnte davor, zu glauben, der Staat könne diese Aufgaben allein bewältigen, stattdessen solle man sich als Bürger/in engagieren: „Wir sind Teil eines Netzes, und dieses Netz wird nicht halten, wenn es nur konsumiert wird, aber die Menschen sich nicht in ausreichendem Maße einbringen – wir dürfen das Netz nicht überfordern.“
Foto der Veranstaltung: Podiumsgespräch
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