10 Heimat und Identität

"Alles verändert sich, entwickelt sich, also muss sich auch der Heimatbegriff ändern, muss neue Errungenschaften integrieren."

Interview mit Florian Lipuš 

Florian Lipuš verdeutlicht, dass eine gemeinsame kulturelle Identität in größtmöglichem Maß aus sich selbst erwachsen sollte, wobei man sich von Querschlägern nicht davon abhalten lassen sollte. Kultur ist eine anerzogene, vermittelte, selbst erlebbare Konstante, die sich nicht so schnell verändert, sondern sich höchstens anpasst.

Der Heimatbegriff ist ja derzeit allgegenwärtig. Worauf führen Sie das zurück?

Weil die Kluft zwischen reich und arm, gerecht und ungerecht, naturgemäß begünstigt und benachteiligt etc. zu groß geworden ist und die Menschen deshalb ihre Heimat verlassen und neue Lebensräume suchen. Heimat ist ein emotionaler Begriff und passt gut ins Konzept zahlreicher populistischer Regierungen, wird bedient als dankbarer Ersatz für die Lösung wirklicher Probleme. Zudem ist der Begriff sehr oft verschwommen, unwichtig, auch fehl am Platz und nur eine Nebensache. Die Menschen wollen Erträglichkeit schaffen, sie wollen essen, wohnen, sich betätigen. Sowohl die, die bereits eine Heimat haben, als auch die, die eine Heimat suchen, wollen überleben.

Weil Sie die Migration ansprechen: Ist es Ihrer Einschätzung nach möglich, dass eine neue Heimat eine alte ersetzen kann?

Möglich ist alles, und positive Beispiele beweisen es in der Tat. Wenn Zuwanderer schlecht behandelt werden, werden sie kaum Heimatgefühle entwickeln. Wenn sie gut behandelt werden, werden sie ein solches Gefühl sehr wohl entwickeln. 

Spüren Sie in der Gesellschaft so etwas wie die Sorge vor Heimatverlust als Folge von Migration?

Diese Sorge sollte den Heimatbegriff stärken und vor allem entkrampfen. Denn alles verändert sich, entwickelt sich, also muss sich auch der Heimatbegriff ändern, muss neue Errungenschaften integrieren, einen anderen Inhalt bekommen. So ist der Verlust des althergebrachten und überstrapazierten, oft auch missbrauchten Heimatbegriffs kein Schaden, sondern eher ein Glücksfall.

Nicht nur der Begriff Heimat, auch Identität wird in gesellschaftlichen Debatten über Integration, Kultur und Gemeinschaft zumeist kontrovers diskutiert. Worauf führen Sie diese Debatte zurück?

Auf das Verschiedenseinwollen, auf den natürlichen menschlichen Drang zur Individualität. Uniformität tötet den Geist und die Seele und verunstaltet den Körper.

Gibt es so etwas wie eine gemeinsame kulturelle Identität?

Das vereinte Europa sollte eine solche sein, ist sie aber nur in den ganz großen Dingen. Eine gemeinsame kulturelle Identität sollte in größtmöglichem Maß aus sich selbst erwachsen, wobei man sich von Querschlägern nicht davon abhalten lassen sollte.

Wie kann eine gemeinschaftliche Identität bzw. ein gemeinsames Narrativ entstehen, mit dem sich alle Mitglieder einer Gesellschaft identifizieren können?

Es entsteht durch weise, auf humanistischen Werten beruhende, beispielgebende Lenkung von oben. Die Menschen wollen geführt werden, dafür bedarf es geeigneter Männer und Frauen. Es scheint, diese kommen uns immer mehr abhanden. Eine entscheidende Bedeutung für eine gemeinsame Identität hat die Vergangenheit. Wir lernen nicht aus der Geschichte, nur die wenigsten lernen ein Stück daraus. Wir lernen aus der Gegenwart. Jeder muss es selbst erfahren, jeder will es auf seine ausgebildete und anerzogene Art versuchen. Vorbilder und Beispiele sind entscheidend: verba movent, exempla trahunt.

Inwiefern hängen Heimat, Identität und Kultur zusammen?

Sie sind meist geografisch gebunden, eingeengt, zum Zusammenleben verurteilt. Deshalb die vielen Fluchten aus armen Ländern in reiche, vom Land in die Stadt, von einer Sprache in eine andere. Viele wollen sich befreien und ziehen weg, suchen Neues. Diese drei Begriffe könnten auch in einem Begriff zusammengefasst werden, wobei jedes Mal jeder Begriff auch die anderen zwei einbeziehen und mitdenken würde.

Bleiben wir kurz bei der Kultur. Welche Rolle spielt sie sowohl bei der persönlichen als auch bei der gemeinschaftlichen Identität?

Kultur ist eine anerzogene, vermittelte, selbst erlebbare Konstante und verändert sich nicht so schnell, passt sich höchstens an. Die zu spielende Rolle hängt von der geistigen Entwicklung des Betreffenden ab und davon, wie viel Kulturbewusstsein im Hinblick auf Gemeinschaft und wie viel Herzensbildung im Hinblick aufs Menschsein einem von Kindheit an mitgegeben wurde.

In Zusammenhang mit Zugehörigkeit, Identifikation und Heimat ist immer wieder auch vom Vertrauen in eine Gesellschaft die Rede. Haben Sie Vertrauen in unsere Gesellschaft?

Nein, persönlich habe ich kein Vertrauen in die Gesellschaft, und zwar deshalb nicht, weil sie meist den Trends nachläuft, das Vorgegebene nachahmt, sich von Medien und Religionen verdummen lässt. Auch in die Gemeinschaft meiner näheren Umgebung, die ich miterlebe, habe ich kein Vertrauen. Kärnten ist im Denken, in Bezug auf Gesinnung in der Vorkriegszeit stecken geblieben, eine Entnazifizierung nach dem Krieg hat nie stattgefunden. In diesem Sinne hat es meine Gemeinde Sittersdorf/Žitara vas, auf öffentlichen Antrag der slowenisch sprechenden Bevölkerung hin, noch 2018 abgelehnt, meinen Wohnort auch in meiner Sprache zu bezeichnen.

Sie sprechen von Zugehörigkeit. Wie entsteht sie?

Sie entsteht in der Familie, durch gemeinschaftsbildende Maßnahmen, durch kulturelle Veranstaltungen, durch Bewusstmachung von Problemen. Respektvoller Umgang mit sich selbst und mit den Anderen entsteht nicht von selbst, sondern muss erlernt werden.

Wie viel Zugehörigkeit und Identifikation mit der Aufnahmegesellschaft bzw. ihrer Lebensweise, ihren Werten und ihrer Kultur ist für die Integration von Zuwanderern und Flüchtlingen unbedingt notwendig? 

Wie geht die Gesellschaft mit den Andersartigen um? Die Kärntner Mehrheitsbevölkerung, vertreten durch Politiker, ging über Jahrhunderte mit der slowenischen Bevölkerung schäbig um. Warum sollte diese Gesellschaft mit den heutigen Fremden anders umgehen? Sie hat es nie gelernt, hat es nie lernen müssen.

Was genau soll der Staat tun, um das Zugehörigkeitsgefühl von Migranten zu fördern? Und natürlich: Was müssen die Zuwanderer selbst tun?

Zuwanderer haben sich den wesentlichen Gegebenheiten des Gastlandes anzupassen, so wie sich auch zum Beispiel Urlaubende den örtlichen Gegebenheiten des Urlaubslandes anzupassen haben, und zwar vom ersten Tag an. Der Staat darf sich nicht erpressen lassen. Geistige Werte, die ja mit der Menschenwürde vereinbar sein sollten, geistige Werte also der Zuwanderer sind zu respektieren, auch wenn sie von den abendländischen abweichen. Doch die Zuwanderer haben sich an die Gesetze des Einreiselandes zu halten. Hass, Krieg, Diskriminierung, Unterdrückung und Ähnliches sind keine geistigen Werte, sondern Waffen. Aber wir haben schlechte Karten. Auch die ach so christlichen Europäer haben sich zum Beispiel in den Kolonien nicht den dortigen Völkern und ihren Gesetzen angepasst, sondern haben sie unterjocht, umgebracht, im Namen der Religion und aus ausbeuterischen, kriminellen Gründen. Die Missionare waren auch keine Ausnahmen. Die heutige Entwicklungshilfe in Form von Lebenshilfe hat viel zu spät eingesetzt. Zur Politik fällt mir noch ein: Sie sollte die Vielfalt als Bereicherung ansehen und dazulernen. Konflikte entstehen aus Dummheit, geistiger Faulheit, Uninformiertheit, Arroganz, Präpotenz. Alles an zahllosen Beispielen belegbar. All diese Eigenschaften wurden und werden uns anerzogen und von Staat und Kirche gefördert. So sind wir besser beherrschbar. Von Bildung kann heute nicht mehr gesprochen werden.

Was sind Ihrer Meinung nach Gründe dafür, dass sich Menschen mit einem Land und seiner Kultur bzw. Lebensweise nicht identifizieren, obwohl sie seit Jahrzehnten in diesem Land leben?

Das in der Kindheit Erlebte und in der Ausbildungszeit Vermittelte bzw. Nichtvermittelte ist entscheidend. Nicht nur die Zugewanderten sind in ihrem Panzer gefangen, auch die Einheimischen sind es. Dieser ist kaum aufzubrechen, man kann ihn nur aussitzen und auf die folgende Generation hoffen.

Und wie ist umgekehrt zu erklären, dass sich Menschen mit Ländern, Kulturen und Gepflogenheiten identifizieren, die tausende Kilometer entfernt sind?

Aus Verzweiflung, nehme ich an. Der Mensch will leben, muss essen und schlafen, sich kleiden. Vieles, wie Liebe, muss warten. Um dieses Minimum an Menschsein zu erreichen, ist er bereit, alles Bisherige aufzugeben und alles Unbekannte anzunehmen.

Florjan Lipuš ist einer der bekanntesten Schriftsteller Österreichs, der 2018 mit dem Großen Österreichischen Staatspreis ausgezeichnet wurde. Er arbeitete als Lehrer. Florjan Lipuš ist korrespondierendes Mitglied der Slowenischen Akademie der Wissenschaften und publiziert sowohl in slowenischer als auch deutscher Sprache. Zu seinen Werken gehören unter anderem die Romane „Der Zögling Tjaž“ („Zmote dijaka Tjaža“) und „Seelenruhig“ („Mirne duše“).

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