06 Parallelgesellschaften
„Anfällig für Radikalisierung sind vor allem Personen, die sich bewusst für eine Gemeinschaft entschieden haben – also nicht in sie und ihre Traditionen hineingeboren wurden.“
Interview mit Rudolf Bretschneider
und Esther Pauli
Das Bewusstsein, einer Gruppe zuzugehören, ein Wir-Gefühl gegenüber anderen Gruppen der Gesellschaft zu haben und zu entwickeln, zeichnet laut Rudolf Bretschneider die verschiedenen Formen von Parallelgesellschaften aus. Dabei ist es nach Esther Pauli auch wichtig, die Vielgestaltigkeit der Minderheitsgruppen zu beachten. Denn diese unterschieden sich in ihren Ursprüngen, ihrer Größe, Festigkeit und Haltung gegenüber der Mehrheitsgesellschaft. Ob Parallelgesellschaften zu Gefahrenquellen werden hängt insbesondere vom Charakter der Parallelstruktur ab. So sind in den letzten Jahren vor allem religiös geprägte Parallelgesellschaften auffällig geworden.
Wie genau definieren Sie Parallelgesellschaften?
Bretschneider: Zunächst ist dieses Phänomen – wie so oft – älter als der Begriff. Das Wesen einer Parallelgesellschaft durch Definition auf den Punkt bringen zu wollen, ist müßig. Hilfreicher für ein gemeinsames Verständnis ist die Untersuchung des Sprachgebrauchs – und eine Liste von Beispielen, die auf die Vielfalt verweist, die sich hinter dem Begriff „Parallelgesellschaft“ verbirgt. Klar sollte sein, dass damit nicht einfach das Nebeneinander von Lebensstilgruppen umschrieben wird. Diese „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, das Nebeneinander von Trägern szientistischer, religiöser, säkularer oder postmoderner Weltbilder macht noch keine Sub- oder Nebengesellschaften aus. Das Bewusstsein, einer Gruppe zuzugehören, ein Wir-Gefühl gegenüber anderen Gruppen der Gesellschaft zu haben und zu entwickeln, zeichnet die verschiedenen Formen von Parallelgesellschaften aus. Eine umfassende Charakteristik von Parallelgesellschaften findet sich etwa bei Václav Benda. Sein Essay „The parallel polis“ wurde 1978 geschrieben und zirkulierte im Samizdat in der Tschechoslowakei. Er hat zwar eine säkulare, moderne Variante vor Augen, die sich in einem autoritären politischen System entwickelt hat, aber die Merkmale und Zielsetzungen, die er anführt, gelten auch für religiöse oder ethnisch konstituierte Varianten.
Seine Parallelgesellschaft hatte eine starke kulturelle Komponente.
Bretschneider: Ja, die Liebe zum Jazz als politisches Symbol, „alternatives Theater“ und inoffizielle Publikationen, eine eigene Erziehung für Kinder und Erwachsene, parallele Informationsdienste, ja sogar eine eigene „Außenpolitik“ und eigene Kooperationsnetze mit ähnlichen Bewegungen im damaligen Ostblock. Kein Wunder, dass diese Initiativen den kommunistischen Machthabern missfielen und von manchen politischen Gruppen jenseits des Eisernen Vorhangs mit Wohlgefallen betrachtet wurden.
Pauli: Wichtig für die weiteren Überlegungen ist es, die Vielgestaltigkeit von Minderheitsgruppen zu beachten, die in einer ihrerseits spezifischen Mehrheitsgesellschaft leben. Verschieden sind Ursprünge, Entwicklung, Ziele, Größe, Funktionen, Festigkeit und Haltung gegenüber der Mehr-
heitsgesellschaft.
Welche Irrtümer bzw. Missverständnisse gibt es rund um Parallelgesellschaften?
Bretschneider: Man kann sagen, dass es nicht so sehr Irrtümer sind, die in Bezug auf Parallelgesellschaften herrschen, sondern eben ein Übersehen ihrer „Artenvielfalt“. Da gab und gibt es zunächst solche, die man als säkulare, jedenfalls nicht explizit religiöse Nebengesellschaften verstehen kann. Dazu zählen etwa die – zahlenmäßig zunächst meist schwachen – Dissidentenbewegungen im früheren Osten, auch manche Geheimbünde, die ihre geheime Vereinigung nicht als politisch, sondern als moralisch verstanden, darunter auch solche, die sich durch ihren Ehrenkodex von den staatlichen Gesetzen entfernen. Sie definieren in unterschiedlicher Weise für sich eine Freiheit vom existierenden Staat, in dem sie leben. Wie das in gewisser Weise auch die Amish tun, die eine religiöse Gründungsgeschichte haben, aber sich in vielen weltlichen Praktiken unterscheiden und in eigenen Communities leben. Parallelgesellschaften ethnischer Provenienz bilden sich natürlich auch durch massenhafte Migration. Iren, Italiener, Hispanics, Chinesen, Deutsche, Österreicher, Tschechen, Juden, Perser – viele suchen in dem Land, in das sie migrierten, zunächst den Kontakt mit „Landsleuten“. Anhand dieser Vielfalt von unterschiedlich strikt organisierten Parallelgesellschaften lässt sich auch die gelegentlich geäußerte Hypothese widerlegen, der zufolge sie zwangsläufig Radikalisierung bewirken.
Aber begünstigen Parallelgesellschaften Radikalisierung?
Bretschneider: Anfällig für Radikalisierung sind aus sozialpsychologischer Sicht vor allem Personen, die sich bewusst für eine Gemeinschaft entschieden haben – also nicht in sie und ihre Traditionen hineingeboren wurden. Jene, die eine neue Identität gewählt haben – zum Beispiel auch Konvertiten –, müssen vor sich und den Gruppen, die sie verlassen haben, ihre Entscheidung verteidigen. Und Unsicherheit, die nach fast jeder Entscheidung besteht, durch besondere Loyalität zur neuen Gruppe abbauen. Dieser psychische Mechanismus begünstigt Radikalisierung.
Wie entstehen Parallelgesellschaften eigentlich? Welche soziologischen Faktoren spielen dabei eine Rolle?
Pauli: Bis zu einem gewissen Grad ist das Entstehen von Parallelgesellschaften im Zeitalter von Migration und Globalisierung ein vollkommen natürlicher und zu erwartender Prozess, der sich ja nicht einmal auf die tatsächliche soziale Realität beziehen muss, sondern sich durchaus auch im virtuellen Raum abspielen kann. Gerade für neu Zugezogene sind entsprechende Strukturen, die aus einem vertrauten kulturellen Hintergrund kommen, sogar eine große Hilfe, wenn es um die Orientierung und die ersten Schritte im Aufnahmeland geht. Ein derartiges soziales Netzwerk hat eine wichtige psychische Stützfunktion. In diesem Sinne sind Parallelgesellschaften, sofern sie eine Zugehörigkeitsoption neben anderen darstellen, als positiv zu betrachten, da sie die erhöhte Vulnerabilität bei Migranten verringern und den Menschen auch dabei helfen können, einen ersten Überblick über die Situation in der Mehrheitsgesellschaft und dem Aufnahmeland zu gewinnen. Das Vorhandensein derartiger Netzwerke kann die psychischen, aber auch materiellen Migrationskosten verringern – ein Phänomen, das etwa in den Kettenmigrationsbewegungen der Gastarbeiterzeit eine Rolle spielte. Wie weit diese sozialen Netzwerke im Aufnahmeland zu ausgeprägten Parallelgesellschaften werden, hängt in erster Linie von ihrer Größe ab.
Weil ab einer gewissen Größe der Anreiz zur Integration geringer wird, da sie für ein funktionierendes Leben schlichtweg nicht mehr notwendig ist?
Pauli: Genau. Umso mehr, als ab einer gewissen Gruppengröße auch die Systemintegration in die Mehrheitsgesellschaft an Bedeutung abnimmt, Stichwort ethnische Arbeitsmärkte. Entsprechend beschreibt Collier, wie die Gruppengröße und die Quantität des Zuzugs aus derselben Herkunftsregion den Prozess der Absorption der Migranten in die Mehrheitsgesellschaft verlangsamen. Unter anderem auch deshalb, weil es durch die vorhandenen Parallelstrukturen nur noch selten zur Wahl von Aufnahmekontext-Optionen – wie Esser die Aneignung von aufnahmekontextspezifischem Kapital nennt – kommt. Dies hat allerdings nicht nur zur Konsequenz, dass sich Parallelstrukturen bilden, sondern auch, dass diese von der Öffentlichkeit als solche wahrgenommen werden. Je nach Grad der sozialen Distanz zur Mehrheitsgesellschaft und nach der Art, wie sich das Verhältnis zwischen den Parallelgesellschaften gestaltet, können diese in der Folge von der Mehrheit als bedrohlich oder gar antagonistisch zu den eigenen Standards wahrgenommen und empfunden werden. Neben objektivierbaren Faktoren, die sich entscheidend auf das Entstehen und die Verfestigung von Parallelgesellschaften auswirken können, sind es die erwähnten kulturellen Distanzen, die eine wesentliche Rolle in der Integrationsfrage und so auch in der Frage nach der Auflösung der gesellschaftlichen Grenzen spielen. Esser unterscheidet zwischen kulturellem und sozialem Kapital, das dem Herkunftskontext entspricht, und einem Kapital, das dem Aufnahmekontext entspricht. Bei großen kulturellen Distanzen zwischen dem Herkunftsland der Migranten und der Aufnahmegesellschaft müssen sich diese Kapitaloptionen nicht entsprechen oder überlagern – im Gegenteil, sie können sogar recht konträr ausfallen. Ein anschauliches Beispiel könnte in diesem Fall die Sprache sein, ein etwas abstrakteres, das Wertehaltungen betrifft, die Gleichstellung von Männern und Frauen in muslimischen und westlichen Ländern. Nun kann zum einen der Fall eintreten, dass Migranten gar keinen Anreiz sehen, sich gegen die bekannten Verhaltensweisen zu entscheiden, zum anderen könnte der Fall denkbar sein, dass Migranten gar nicht wissen, was von ihnen an Werte- und Optionenübernahme – anders gesagt: an Integrationsleistung – erwartet wird. Hier kann die Parallelgesellschaft eine stützende Funktion erfüllen, sodass sie der Mehrheitsgesellschaft aufgeschlossen gegenübersteht. Um aber dem Entstehen von möglichen Gegenstrukturen entgegenzuwirken, muss für alle Gruppen transparent sein, was von ihnen erwartet wird.
Wo liegen die generellen Probleme bzw. Gefahren von Parallelgesellschaften?
Bretschneider: Ob Parallelgesellschaften zu potenziellen Gefahrenquellen werden, hängt stark vom Charakter der Parallelstrukturen ab. Auffälliger sind in den letzten Jahren religiös geprägte Parallelgesellschaften geworden. Auffällig vor allem dort, wo man Religion nicht mehr als eine politische Größe betrachtet hat, sondern einer Säkularisierungsthese anhing. Der religiöse Glutkern ist in Wahrheit nie erloschen. Darauf hat der österreichische Philosoph Rudolf Burger schon 2004 verwiesen. Und der eminente Religionssoziologe Peter L. Berger hat die, früher auch von ihm vertretene, Säkularisierungsthese schon lange verworfen und auf die bedeutende Rolle der Religion gerade auch in pluralistischen Gesellschaften hingewiesen. Als Beispiel für die prägende Rolle, die Religion auch unter modernen Bedingungen spielen kann, führt er die „Pfingstler“ bzw. die „Evangelikalen“ an. Er zeigt auch, dass Gruppen mit einem mehr oder weniger starken Hang zum Fundamentalismus auf die Entwicklung einer Subkultur abzielen. Und folgerichtig auf Abschluss und Kommunikationskontrolle – die in modernen Gesellschaften schwer zu verwirklichen sind und daher die Entwicklung totalitärer Maßnahmen begünstigen.
Bleiben wir kurz beim Islam.
Bretschneider: Der Islam bildet spezifische Parallelgesellschaften aus, wenn er in anderen Gesellschaften, in denen die meisten Menschen eben nicht muslimisch sind, Fuß fassen will. Eine Trennung von Staat und Religion ist in der islamischen Geschichte zwar nicht unbekannt, aber eher die Ausnahme. Man ist als gläubiger Muslim nicht leicht in der Lage, in einer nicht muslimischen Mehrheitsgesellschaft zu leben, in der viele Lebensbereiche nicht von einem allumfassenden Gesetz geregelt werden. Die Suche nach einem „wahren Islam“ jenseits traditioneller ethnisch geprägter Traditionen wird bei jenen begünstigt, die auf der Suche nach einer festen Identität sind. Also vielfach bei jungen Menschen. Zum Anschluss an eine Parallelgesellschaft trägt aber nicht nur eine Abwehr der neuen Gesetze, die mit den eigenen Traditionen im Widerspruch stehen, bei. Es kann auch das Gefühl, abgelehnt bzw. bekämpft zu werden, eine Rolle spielen. Eine für die Akzeptanz entscheidende Charakteristik von Parallelgesellschaften ist das Vorhandensein oder eben Nichtvorhandensein eines Expansionsdrangs bzw. einer aggressiven Grundhaltung. Wird ein solcher von der Mehrheitsgesellschaft oder Teilen derselben wahrgenommen, kommt es leicht zu Konflikten. Vor allem, wenn die Thematik politisch genutzt und medial verstärkt wird.
Weil man sich bedroht fühlt?
Bretschneider: Starke Ressentiments gegenüber „den anderen“, als die man Vertreter einer Parallelgesellschaft oft sieht, entstehen aus einem Bedrohungsgefühl – das seinerseits diverse Ursachen haben kann. Das Bedrohungsgefühl kann durch das rasche Wachstum der Subkultur entstehen, es kann aber auch aus einer Art „Kulturangst“ kommen. Oder aus gefühltem Kontrollverlust, bis hin zur Furcht, die bisherigen politischen Spielregeln könnten in einem neuen System untergehen. Muslimische Parallelgesellschaften sind nicht nur wegen ihres Wachstums, das in vielen europäischen Ländern zu beobachten ist, Spezialfälle. Es spielt auch eine Rolle, dass sich innerhalb dieser oft engen Communities mit ihrem eigenen Ehrenkodex oder Gesetzesverständnis Subgruppen herausbilden, die sich – aus unterschiedlichen Gründen – radikalisieren, aber mit der Gesellschaft, aus der sie kommen, auch dann in Verbindung gebracht werden, wenn sie sich von ihr aggressiv losgesagt haben. Parallelgesellschaften können also unterschiedliche Rollen spielen. Je nach Standpunkt des Betrachters können es konstruktive oder destruktive Rollen sein: die des Störenfrieds, des Sündenbocks, des Opfers, der produktiven Unruhe, des unheimlichen Fremdlings, des gefürchteten Feindes. Sie sind für die einen Heimat in der Fremde, soziale Stütze und identitätsstiftendes Element, für die anderen politischer Reibebaum oder willkommenes Exempel für die eigene Positionierung.
Wie soll die Regierung mit Parallelgesellschaften umgehen?
Pauli: Generell ist das natürlich eine Frage, die sehr stark vom Charakter der Parallelgesellschaft abhängt, der sehr vielfältig sein kann. Ähnlich den theoretischen Ansätzen des Multikulturalismus muss von offizieller Seite wohl nicht in Strukturen eingegriffen werden, die im wahrsten Sinne des Wortes nur parallel zur Mehrheit existieren, sich dieser aber nicht verschließen. Am Beispiel von Amsterdam lässt sich jedoch verdeutlichen, dass eine allzu große Toleranz nicht nur zu unerwarteten und unerwünschten Folgen führen kann, sondern auch zu einem gewaltigen Backlash, also einem Rückschlag. Während die Stadt lange für ihre gelebte Multikulturalität bekannt war, schloss sich Amsterdam 2009 einem generellen Burkaverbot an – an die Stelle der radikalen Offenheit trat also überraschende Restriktivität.
Bretschneider: Ein gegenteiliges Beispiel ist die Akzeptanz der Scharia in bestimmten Zonen Londons. Hier wird also Recht, das jenem Großbritanniens zuwiderläuft, akzeptiert. Im Großen und Ganzen ist die entscheidende Frage, wie stark eine Nation zu ihren eigenen Werten und Normen steht, die das Ausmaß des Eingreifens in Parallelgesellschaften und den Grad, wie stark gefährdet diese Werte und Normen durch Parallelstrukturen eingestuft werden, mitbestimmt. Natürlich können und sollen nicht alle Bereiche kultureller Communities kontrolliert und staatlich reguliert werden, doch das Fehlen von Vorgaben darf nicht mit Toleranz und kultureller Offenheit gleichgesetzt werden. Das Beispiel der Gastarbeiter in Österreich zeigt allzu deutlich, dass seinerzeit fehlende Angebote wie Sprachkurse, Weiterbildung, Qualifizierung etc. das Entstehen von Parallelstrukturen fördern und eben nicht zur Integration beitragen.
Um konkret zu werden: Wie sehr darf bzw. soll sich die Regierung in Gesellschaften einmischen, etwa bei Pflichten für frisch Zugewanderte?
Bretschneider: Die unterschiedlichen Funktionen von Parallelgesellschaften bzw. Subkulturen verlangen von der Politik eine differenzierte Betrachtung. Außer Frage steht die Beibehaltung der Errungenschaft, Staat und Kirche oder Moschee zu trennen. Gleichzeitig muss der Staat mit religiösem Pluralismus sachlich und distanziert umgehen. Das Recht muss in säkularen Begriffen formuliert sein, die auf jegliche religiöse Begründungen verzichten. Und er muss darauf mit seinem Gewaltmonopol bestehen, dass diese Regeln eingehalten werden. Die Parallelgesellschaften müssen mit ihren Gesetzen und Regeln kompatibel mit dem staatlich geltenden Recht sein. Dazu kann sie der Staat zwingen. Nicht zwingen kann er sie zum gründlichen Erwerb der Landessprache oder zur Wertschätzung der lokalen oder nationalen Kultur – auch wenn dies im Interesse der Angehörigen einer Subkultur, etwa Migranten läge. „Nudging“-Techniken, also „Anstupsen“, sind das Einzige, was sich in einem liberalen Rechtsstaat noch gut rechtfertigen lässt.
Kann man Parallelgesellschaften auch rückgängig machen?
Bretschneider: Schwer. Gehen wir von einem Fall aus, in dem Parallelstrukturen beginnen, sich in Gegenstrukturen zu verwandeln oder dies bereits getan haben. Denn in den anderen Fällen – also bezogen auf Parallelstrukturen, die für die Gesamtgesellschaft unproblematisch sind – wird man kaum Schritte ergreifen müssen, diese Strukturen rückgängig zu machen oder aufzubrechen. Im Fall von sehr verschlossenen Systemen, die für ihre Mitglieder oder die Gesamtgesellschaft Probleme verursachen, wird es nur sehr langfristig möglich sein, einen Weg aus diesen Gegenstrukturen zu finden – wenn überhaupt. Denn über die Parallelgesellschaft sucht die Gruppe eine aktive Abgrenzung zur Mehrheit.
Welche historischen Beispiele für Parallelgesellschaften gibt es? Was kann man aus früheren Entwicklungen in diesem Bereich lernen und für aktuelle Migrationsbewegungen nutzen?
Pauli: Die Kulturgeschichte ist voll von Beispielen von Parallelgesellschaften. Entwicklung und Fortschritt wären ohne sie wohl nicht denkbar gewesen. Auch zwischen der christlichen und der muslimischen Welt gab es eine Zeit der gegenseitigen Anregung und des Austausches. Heute sind es in Europa besonders oft gerade die muslimischen Parallelgesellschaften, die uns beschäftigen und die – politische – Intervention mitunter notwendig machen. Im Falle Österreichs ist auf die historische Bedingtheit der türkischen Parallelgesellschaften zu verweisen, die sich aus der Gastarbeiteranwerbung und den damals fehlenden Integrationsmaßnahmen ergab. Daraus lässt sich lernen, dass es zum einen falsch ist, Systeme sich selbst zu überlassen – denn auch wenn sie nicht radikal werden, können diese Strukturen zu gesellschaftlichen Spannungen und systematischen Ungleichheiten führen.
Bretschneider: Zum anderen darf weder von zivilgesellschaftlicher Seite noch von politischer in ein Extrem verfallen werden: Weder hilft eine aggressive Ablehnung muslimischer Zuwanderer, aber auch das Schönfärben von Konfliktpotenzial ist höchst problematisch. In diesem Zusammenhang ist wahrscheinlich die wichtigste Lehre aus der Gastarbeiterbewegung, dass Zuwanderung nicht gleich Zuwanderung ist. Kulturelle Distanzen sollten beachtet und bei der Umsetzung von Integrationsmaßnahmen berücksichtigt werden, auch um den Migranten Orientierung zu geben. Über Unterschiede in den Kulturen hinwegzusehen, um nicht den Verdacht der politischen „uncorrectness“ auf sich zu ziehen, wäre weder gegenüber den Zuwanderern noch gegenüber der Mehrheitskultur fair.
Trauen Sie sich, eine Prognose in diesem Bereich zu stellen? Wie werden sich Parallelgesellschaften künftig entwickeln, welche denkbaren Szenarien bzw. Dystopien gibt es?
Bretschneider: Zunächst einige Dinge, die nicht zu erwarten sind: Die technisch-wissenschaftliche Entwicklung wird Parallelgesellschaften nicht schwächen. Modernisierung führt nicht zur Ausbreitung eines bestimmten Lebensstils, der die gesamte Kultur einer Parallelgesellschaft umfasst. Verfügbare neue Kommunikationsmittel können die Entwicklung und Stabilisierung von Parallelgesellschaften sogar begünstigen – durch „Echo-Effekte“ in der Kommunikation und steigende Kontaktintensität bzw. -frequenz. Parallelgesellschaften werden sich nicht gleichmäßig über das ganze Land bzw. europäische Länder ausbreiten. Man wird sie eher im großstädtischen Raum sehen, und zwar in jenen Staaten, die schon einschlägige Populationen haben, die gleiche Gruppen – religiös oder ethnisch etc. – anziehen. Das wird vor allem dort der Fall sein, wo Integration nur langsam oder schlecht erfolgt und die Absorptionsrate der zugewanderten Bevölkerung gering ist – und damit „Nachzug“ begünstigt. Es wird nicht zu einer höheren Homogenität der Landesbevölkerung kommen – obwohl in einigen Ländern, auch von Politikern, davon geträumt wird. Homogene Gesellschaften sind bestenfalls auf Inseln vorstellbar. Oder in totalitären Staaten – bei hohen Kosten. Pluralität ist ein unaufhebbares Merkmal der Moderne – und der Postmoderne. Sie ist anstrengend, weil ihre Wahrnehmung vor Augen führt, dass der eigene Lebensstil, Glaube, Standpunkt eben nicht selbstverständlich ist. Zwischen extremem Relativismus und veränderungsresistentem Fundamentalismus muss man eine Haltung entwickeln. Die politische Versuchung wird groß sein, die neue Bevölkerung, die sich in Parallelgesellschaften entwickelt, als Wähler zu gewinnen. Das ist zum einen eine Strategie, um neue politische Parteien ethnischer oder religiöser Provenienz zu verhindern. Kann aber auch zur Aufgabe politischer Positionen verführen, wenn man im Hinblick auf die Angehörigen der Parallelgesellschaften populistisch agiert – durch Anpassung oder Versprechungen.
Rudolf Bretschneider hat Psychologie studiert und ist seit mehr als 50 Jahren in der Sozial- und Marktforschung tätig. 37 Jahre lang (bis 2008) hat er die GFK Austria geleitet und ist seither Konsulent. Darüber hinaus ist er seit 1970 Lehrbeauftragter am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien und seit 1994 Beiratsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik. Zudem ist er Vorstandsmitglied des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM).
Esther Pauli konnte erste praktische Erfahrungen mit den Themen Migration und Integration in der Offenen Jugendarbeit in Wien sammeln. Sie forschte zu ethnischen Stereotypen in der österreichischen Migrationsgesellschaft.