03 Menschen türkischer Herkunft in Österreich

Perspektiven Integration

„Ein weiteres Problem, das wir haben, ist das Phänomen der Heiratsmigration.“

Interview mit Kenan Güngör 

Kenan Güngör hebt hervor, dass sich der Integrationsgrad bei den Türkeistämmigen in Österreich je nach Subgruppe und Milieu stark unterscheidet. Er warnt davor, dass bei einem Andauern der derzeitigen Entwicklungen die Türkei nicht mehr die Grenze für Flüchtlinge sein wird sondern selbst eine Flüchtlingswelle auslöst.

Wie wird Ihrer Meinung nach das Referendum zur Verfassungsänderung in der Türkei am 16. April ausgehen?

Das lässt sich schwer einschätzen. Einige seriöse Umfrageinstitute gaben bis vor kurzem an, dass diejenigen, die das Präsidialsystem ablehnen, leicht im Vorsprung sind. Bemerkenswert ist, dass – obwohl der größere Teil mit „Nein“ abstimmen dürfte – bei 80 Prozent der Bevölkerung die Annahme vorherrscht, dass Erdogan die Wahl so oder so gewinnen wird. So sehr hat sich das Bild eingeprägt, dass Erdogan die Wahl nicht verlieren kann. Es ist zudem zu befürchten, dass es auch zu Manipulation kommen kann. Insbesondere dann, wenn der Wahlausgang knapp wird.

Welche Rolle werden die jüngsten Eskalationen in den Niederlanden, Deutschland und anderen EU-Ländern dabei spielen?

Die Eskalation mit Europa war anfangs nicht geplant und Erdogan hat das als einen direkten Affront und eine Demütigung gesehen. Wer ihn etwas verfolgt, weiß, wie empfindlich und rachsüchtig er sein kann. Nun kommt es ihm eher gelegen. Er versucht, die ablehnende Haltung Europas nicht auf sich oder seine anitdemokratische Politik zu beziehen, sondern als Ablehnung der gesamten Türkei. Er spielt mit nationalistischen und antieuropäischen Ressentiments, wo er stellvertretend für die Ehre der Türken den „verlogenen, doppelzüngigen“ Europäern die Stirn bietet. Die Bilder von Rotterdam von verletzten Erdogan-Anhängern, die von Hunden angegriffen werden, kommen ihm in seiner Propagandaschlacht sehr gelegen.

Wie bewerten Sie das Vorgehen der türkischen Regierung im Zusammenhang mit der Wahlwerbung bei Auslandstürken in Europa? Welche Strategie steckt dahinter?

Es ist schon bemerkenswert, mit welcher Unsensibilität Erdogan seine Wahlkampfmaschinerie in Europa anwerfen möchte. Absolutistische Herrscher kennen keine Grenzen, sondern erwarten, dass sich ihm alle fügen. Europa war für ihn eher ein Hinterland, wo er seine Propagandamaschinerie anwerfen wollte. Dass diese Massivität und seine politisch hoch bedenkliche Ausrichtung in Europa zu einem Unbehagen führen könnte, war ihm in seiner Selbstreferenzialität egal. Jetzt versucht er, aus der Eskalation einen nationalen Schulterschluss zu beschwören, und hofft, die wichtigen Prozentpunkte dazu zu gewinnen.

Wie werden sich diese Ereignisse auf das Zusammenleben zwischen der türkischen Bevölkerung und der Mehrheitsgesellschaft auswirken? Bzw. auf das Zusammenleben innerhalb der inhomogenen türkischen Bevölkerung in Österreich?

Erdogan ist es ziemlich egal, was für einen Schaden er für das Zusammenleben hier anrichtet. Es kommt nicht nur zu einer Polarisierung innerhalb der Türkeistämmigen, sondern auch zu einer desintegrativen Polarisierung mit der Mehrheitsgesellschaft.

Was sagen Sie zu dem in diesem Kontext ausgesprochen harten Umgang von Österreich und der EU mit der Türkei? Von vielen österreichischen Politikern sind ja sehr deutliche Worte wie „Quasi-Diktatur“ etc. gefallen.

In Österreich spielen drei Faktoren eine Rolle: Zum einen gibt es hier ein breites Ressentiment gegenüber türkeistämmigen Menschen. Zum anderen ist es die ungefragte Martialität und Massivität der Wahlkampfauftritte, die jegliche Form von Takt und Umsicht vermissen lässt. Das löst Unbehagen aus. Hinzu kommt, dass man nicht gerade begeistert ist, dass man in einem liberal-demokratischen Land für ein antiliberales und autokratisches System von offizieller Seite Werbung macht.

Deniz Yücel, ein deutsch-türkischer Journalist, befindet sich immer noch in Haft. Viele andere türkische Journalisten beklagen eine Einschränkung der journalistischen Freiheit. Wie beobachten Sie diese Entwicklung?

Der Fall Yücel führt uns vor Augen, wie einfach es in der Türkei ist, von einem kritischen Journalisten zu einem Terroristen gebrandmarkt zu werden. Mit ihm sitzen tausende Journalisten, Wissenschaftler, Intellektuelle und Oppositionelle im Gefängnis. Die Türkei entwickelt sich mit Erdogan in eine sehr bedenkliche Richtung. Erdogan gilt in Europa als eine Art „unguided Missile“, der das Land wirtschaftlich, politisch wie auch gesellschaftlich in den Abgrund treibt.

In Österreich leben rund 200.000 bis 300.000 Personen türkischer Abstammung. Wie gut ist diese Gruppe Ihrer Meinung nach integriert?

Ich denke, wir sollten begrifflich unterscheiden. Nicht alle Menschen aus der Türkei sind auch Türken, sondern es gibt neben Kurden auch andere ethnische Gruppen. Von daher sollte man weniger von den Türken oder Türkischstämmigen als vielmehr von Türkeistämmigen sprechen. Denn Letzteres bezeichnet nicht eine Ethnie sondern einen Staat aus dem die Menschen stammen.

Die Lebensstile, Wertvorstellungen und auch der Integrationsgrad sind je nach Subgruppe und Milieu auch bei den Türkeistämmigen sehr unterschiedlich. Grob gesprochen kann man zwei Gruppen ausmachen. So gibt es eine Gruppe, die stark sozial unterschichtet ist, die den sozialen Aufstieg nicht schafft und als eine migrantische Unterschicht sich verfestigt. Dann haben wir eine andere Gruppe, die in Richtung Mittelschicht bereits aufgestiegen ist. Der Gap zwischen jenen, die den Aufstieg schaffen, und den Abgehängten steigt. Das wird uns noch längerfristig beschäftigen.

Welche Rolle spielt die geringe Bildungsbeteiligung in jener Gruppe, die den sozialen Aufstieg nicht schafft?

Ein zentraler Faktor ist die soziale Vererbung des Bildungskapitals, das zeigen alle Studien und auch die letzte Pisa-Studie. Für bildungsschwache Familien und somit für viele türkeistämmige Familien ist es deutlich schwieriger, den Bildungsaufstieg zu schaffen. Denn unser Bildungssystem setzt stark voraus, dass die Eltern beim schulischen Erfolg der Kinder aktiv mitwirken und unterstützen. Wenn sie aus einer Familie kommen, die wenig Bildungskapital aufweist und das Schulsystem zum Teil nicht kennt, dann kann die Familie dem nicht nachkommen. Bildungsstarke Familien hingegen können ihre Kinder unterstützen. Das führt dazu, dass über die Verlagerung eines Teils des Bildungsauftrags in die Familien bildungsstarke Familien gestärkt und bildungsschwache Familien geschwächt werden. Somit reproduziert das Bildungssystem eigentlich die soziale Ungleichheit, anstatt sie zu beheben. Denn wir bewerten das Bildungskapital der Eltern und weniger das der Kinder und machen uns schuldig an ihnen.

Einen weiteren Punkt bilden die Freundeskreise. Das ist eine unterbeleuchtete Größe. Wir übersehen, dass insbesondere männliche Jugendlichen sehr stark – insbesondere im Alter von zwölf bis 19 – von ihren Peergroups, also Freundeskreisen, beeinflusst werden. Je nachdem in welchem sozialen Umfeld die Kinder aufwachsen, ob also in der Peergroup Bildungsorientierung ein Thema ist, hat das eine andere Auswirkung, als wenn sie in einer Jugendgruppe sind, wo es eher uncool ist und du sofort als Streber bezeichnet wirst, wenn du was tust. Wenn nicht bildungsfördernde, nicht bildungskompatible Einstellungen und Haltungen in diesen Gruppen dominant sind, färbt das auch auf die Jugendlichen ab. Somit können Peergroups und Freundeskreise einen starken integrativen oder desintegrativen Effekt haben. Sie haben in dieser Zeit viel mehr Einfluss als die Eltern oder Lehrer. Gerade in bildungsschwachen Stadtteilen und Schulumgebungen kommt es zu einer Kumulation von sich selbst verstärkenden Abwärtsspiralen. Somit können benachteiligte Umgebungen bzw. Grätzel benachteiligender wirken.

Im Vergleich zu anderen Herkunftsländern nimmt nur eine Minderheit (42 Prozent) der türkischen Frauen am Erwerbsleben in Österreich teil. In Wien sind türkische Staatsangehörige zudem die größte Gruppe der ausländischen Mindestsicherungsbezieher (BMS). Was sind die Gründe dafür?

Da die Türkeistämmigen nach den Deutschen die größte Migrantengruppe bilden und zugleich einen schwachen sozioökonomischen Status einnehmen, ist ihr Anteil am BMS-Bezug auch entsprechend hoch. Das geringere Bildungskapital gepaart mit einem traditionelleren Bild der Geschlechterrollen trägt dazu das seinige bei. Man sieht auch immer wieder Frauen, die gut ausgebildet sind und nach der Heirat und den Kindern den Weg in den Arbeitsmarkt nicht finden. In dem Maße, in dem traditionelle Frauenrollen vorherrschen, in dem haben sie auch eine viel stärkere Lebenslegitimation zu Hause zu bleiben. Dies hat auch mit der Zahl der Kinder zu tun.

Ein weiteres Problem, das wir auch haben, ist das Phänomen der Heiratsmigration. Männer und Frauen finden ihren Partner zum Teil in den Herkunftsländern. Das ist an sich überhaupt nicht schlimm. Aber es zieht ein integrationsrelevantes Problem nach sich. Der jeweilige Partner muss mühsamst alles wieder neu aufbauen, um sich in die neue Gesellschaft zu integrieren, was nicht immer gelingt. Über die Heiratsmigration kommt es zu einer permanenten Reproduktion der ersten Generation, obwohl wir eigentlich in der dritten oder vierten Generation sind. Durch eine Person im Haushalt, die die deutsche Sprache nicht spricht, wird die Familiensprache, wie auch der Medienkonsum etc. dann automatisch nur türkisch und das Deutsche fällt weg, gerade bei den Kindern. Bei Frauen kommt hinzu, dass sogar häufig auch bei besser Gebildeten über die Heiratsmigration und die Entwertung ihres bisherigen Sozial- und Bildungskapitals ein Leben als Hausfrau einfacher und naheliegender erscheint, als sich über den beschwerlichen Weg des Erwerbs der Sprache und Qualifikationen einen Job zu suchen. Sie müssen mühsam die Sprache lernen, sich mühsam auf dem Arbeitsmarkt bewerben, sie bekommen in der Zeit Kinder – so etwas hindert sehr stark.

Was muss da getan werden, um die Frauen zu fordern und zu fördern?

Ich glaube, dass die Frage der Abhängigkeit und der Bedürftigkeit sehr wichtig ist. Ihnen sollte sichtbar gemacht werden, dass sie damit in eine zum Teil selbstverschuldete Abhängkeit von ihrem Lebenspartner geraten, wie auch in der Gesellschaft immer in der Defensive und marginalsiert bleiben. Es ist für ihre Teilhabemöglichkeiten, Unabhängigkeit, Selbstständigkeit und ihr Selbstvertrauen wichtig, dass sie auf eigenen Füssen stehen. Übrigens ist Abhängigkeit nicht das Schlimmste, vielmehr ist es die Ausnutzung der Abhängigkeit und das kann leicht passieren, was sich gerade in Scheidungssitutationen dramatisch zeigen kann.

Unter türkischen Zuwanderern ist das Zugehörigkeitsgefühl zum österreichischen Staat im Vergleich zu anderen Herkunftsländern weitaus geringer. So fühlen sich laut einer GfK-Erhebung aus dem Jahr 2016 weniger als die Hälfte der Zugewanderten aus der Türkei dem österreichischen Staat zugehörig. Was sind die Gründe hierfür?

Wir haben beide Entwicklungen zugleich. Einerseits betonen die Türkeistämmigen im Vergleich zu Menschen aus Ex-Jugoslawien europaweit viel stärker, dass sie Türken sind. Zugleich zeigt sich, dass es innerhalb der europäischen Länder zum Teil erhebliche Unterschiede gibt. In Holland weiß man, dass sich die Türken viel stärker als Holländer fühlen, als sie sich in Österreich als Österreicher fühlen.

Worauf ist das zurückführen?

Das eine ist natürlich die emotionale Verbundenheit zur Herkunft. Sie ist übrigens sehr familiär gebunden. Wenn man die Religion und sein Türkensein verneint oder verdrängt, so distanziert man sich von der Kultur und eigentlich von der Geschichte ihrer Eltern. Wenn wir nur in nationalen Kategorien denken, übersehen wir, wie wichtig familiäre Bindungen sind. Wenn gesagt wird: „Du musst dich als Österreicher fühlen.“ funktioniert das nicht, sondern löst meistens das Gegenteil aus. Es ist etwas ganz anderes, eine Offerte, ein Angebot zu machen, so in Richtung: „Hey, es wäre schön, wenn du auch ein Teil davon bist“. Das ist etwas anderes, als zu sagen: „Ihr müsst, ihr sollt.“ Zugleich gibt es eine gewisse Ablehnung gegenüber Türkeistämmigen in der Gesellschaft. Die paradoxe Botschaft lautet „Integriert euch, aber eigentlich wollen wir euch nicht“. Das funktioniert natürlich nicht. Das Andere ist, dass die Performance der Türkeistämmigen auch hätte besser ausfallen können. Es bräuchte eine soziale Bewegung in der türkeistämmigen Communtiy, die sagt „Wir haben zwar einiges geschafft und beigetragen, aber es gibt vieles, was wir besser tun können!“. So eine Haltung könnte eine Dynamik freisetzen.

Wie wichtig ist in diesem Kontext die Religion?

Religion und Aussehen spielen eine sehr wichtige Rolle. Überhaupt macht es Sinn, zwischen visiblen und nicht visiblen Migranten zu unterscheiden. Es macht einen deutlichen Unterschied, ob man aufgrund der Hautfarbe im Alltag immer als Migrant wahrgenommen wird oder nicht. Da kann man seit 1000 Jahren in Österreich leben und wird immer noch gefragt, woher man kommt. Die Fremdheitserfahrung über Visibilität ist nicht zu unterschätzen.

Zum anderen geht es um die Frage der kulturellen und emotionalen Nähe und Distanz. Dabei spielt neben der Nationalität wieder im zunehmenden Maße auch die Religion eine Rolle. In dem Maße, in dem die Religion als identitärer Zugehörigkeits- und Abgrenzungsmarker dient, nimmt auch die Distanz zwischen den muslimischen und nichtmuslimischen Gruppen zu und steigert die gegenseitige Fremdheitswahrnehmung.

Wie schätzen Sie das Thema der Doppelstaatsbürgerschaft bei der türkischstämmigen Bevölkerung in Österreich ein?

Ich würde die doppelte Staatsbürgerschaft als Optionswahlrecht begrüßen, wo man sich irgendwann auch entscheiden muss. Das Optionswahlrecht gibt den hier geborenen Kindern automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft und mit 18 müssen sie sich, sofern sie eine weitere Staatsbürgerschaft haben, entscheiden, welche sie behalten bzw. ablegen möchten.

Wie schätzen Sie die Demonstrationen der Erdogan-Anhänger in Österreich nach dem Putschversuch im Juli letzten Jahres ein?

Mit Erdogan und der AKP-Bewegung hat die Türkei bisher in der Zeit von 2001 bis 2008 ihren größten Aufstieg und Modernisierungsschub erlebt. Die Wirtschaft wuchs markant, man war auf einem pro-europäischen Kurs und man konnte sich stolz als Türke, Muslim und europäisch zeigen. Das hat ihrem Selbstwert gut getan. Das ist in den letzten Jahren leider wieder in das Gegenteil gekippt. In dem Maße in dem die Regierungspartei AKP nationalistisch-islamistischer, antiliberaler und autoritärer wird, in dem Maße findet es leider auch seinen Niederschlag bei im Ausland lebenden Migranten. Grundsätzlich kann festgehalten werden, je höher die Konflikte in den Herkunftsländern sind desto stärker findet eine Re-Identifikation und Re-Ethnisierung in der Diaspora statt. Der Putsch hat alle Menschen aus der Türkei berührt und dass Menschen auf die Straße gehen und gegen den Putsch demonstrieren ist eigentlich nachvollziehbar. Doch beim näheren Hinsehen waren das aber weniger Demokratie demonstrieren, als vielmehr Loyalitätsbekundungen für das Erdoganregime. Denn wem die Demokratie und Meinungsfreiheit ein Anliegen ist, kann nicht zugleich für Erdogan auf die Straße gehen, der gerade diese abschafft und einen autoritären Staat aufbaut. Das Grundrecht zu demonstrieren steht allen zu und kann nicht in Frage gestellt werden, wohl aber die Inhalte und die Form der Demonstration. Wichtig wäre dabei zwischen den Aktiven, die lautstark auf die Strasse gehen, und dem großen Teil der Menschen, die mit der AKP sympathisieren und hier ein normales Leben führen, zu unterscheiden. Eine kritische Diskussion halte ich für wichtig und notwendig. Dafür ist auch dieses Spektrum sehr heterogen.

Wie wirkt sich das auf das Zusammenleben in Österreich konkret aus?

Wenn man demonstriert, dann muss die Community wenigstens mehr Taktgefühl zeigen. Ich weiß, dass das emotional sehr bewegend sein kann. Lautstark mit roten Flaggen und sehr martialischen Sprüchen zu demonstrieren und eine doch sehr aggressive Grundstimmung bei dieser Demonstration zu haben, erhöht die Skepsis noch mehr. Das es auch noch zu einer antikurdischen Demonstration ausartete, zeigt, welche Stimmungen und Geisteshaltungen – wenn auch nicht ausschließlich – dort dominant waren.

Wie schätzen Sie zukünftige Migrationsbewegungen von Türken nach Österreich und in die EU ein?

Früher hat die Türkei einen Wirtschaftsboom erlebt und war ein Anziehungspol für österreichische und deutsche Türken. Auch das hat sich umgedreht. Es gibt viele, die wieder den Weg zurück suchen. Aber meine ernsthafte Sorge ist ein andere. Die Türkei schlittert in eine sehr problematische Entwicklung mit der Abschaffung der Rechtsstaatlichkeit und der demokratischen Strukturen sowie der Einschränkung der Meinungsfreiheit. Das führt dazu, dass die liberale und progressive Opposition sagt: „Ich ertrage es hier nicht mehr“. Dann habe ich die Sorge, dass die gesellschaftlichen Konflikte innerhalb der Gruppen – der Aleviten, Kurden, Nationalisten, Islamisten – noch weiter steigen. Gegenwärtig polarisiert sich das sehr stark. So haben wir einen nicht erklärten Bürgerkrieg in den kurdischen Gebieten. Mehrere kurdische Städte sind dem Erdboden gleich gemacht worden, Hunderttausende sind obdachlos und hunderte Zivilisten wurden ermordet. Wenn das so weiter geht, wird die Türkei nicht mehr die Grenze für Flüchtlinge sein, sondern eher wieder eine neue Flüchtlingswelle auslösen – eine Flucht von Kurden und liberalen-progressiven Menschen. Das ist eine der möglichen Szenarien. Die andere Frage ist, ob und wie lange der Flüchtlingsdeal halten wird. Der ist auf sehr wackeligen Füßen.

Was kann man tun, wie sollen Politik und öffentliche Institutionen handeln?

Außenpolitisch halte ich die Kritik an den Verhältnissen in der Türkei für mehr als berechtigt. Ich begrüße in diesem Zusammenhang die Haltung des Bundeskanzlers und Außenministers ausdrücklich. Wenn man bei diesen Fehlentwicklungen die Beitrittsgespräche nicht einfriert, wann überhaupt. Ein Einfrieren heißt aber nicht abbrechen. Denn die EU ist einer der wenigen letzten Strohhalme, an die sich die progressiven Teile der Türkei noch halten. Zudem müssten die Gelder aus der EU zur türkischen Regierung eingefroren und zugleich die Unterstützung und der Austausch mit der Zivilgesellschaft gefördert werden.

Innenpolitisch kann man, wenn man dem Ganzen überhaupt etwas Positives abgewinnen will, dann das sagen, dass es langsam auch in Österreich ankommt, dass die Türkeistämmigen keine homogene Gruppe sind. Bisher haben wir nur von „den Türken“, „den Muslimen“ gesprochen. In diesem Zusammenhang wäre es wichtig, dass man sich viel genauer ansieht, mit wem man wie kooperiert. Ich habe das Gefühl, dass das sehr oft sehr locker gehandhabt worden ist. Dementsprechend muss man auch eine informierte und differenzierende Strategie entwickeln.

Unter der Bedingung des Respekts ist eine konstruktive und kritische Diskussion mit Teilen der türkeistämmigen Community notwendig. Respekt sollte nicht als desinteressiertes Beschwichtigen oder Kalmieren verstanden werden, sondern ist die Voraussetzung für Kritik. Da steht noch einiges vor uns.

Kenan Güngör ist Leiter des Beratungs- und Forschungsbüros "think.difference". Als internationaler Experte für Integrations- und Diversitätsfragen berät und begleitet er staatliche und nichtstaatliche Organisationen auf der Bundes-, Landes- und Gemeindeebene. Darüber hinaus ist er Mitglied es Expertenrats für Integration.

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