06 Parallelgesellschaften

„Eine verschleierte Person sagt deutlich, dass es ein ‚Wir‘ und ein ‚Ihr‘ gibt.“

Interview mit Boualem Sansal

Nach Boualem Sansal muss man bei Parallelgesellschaften dann von einer Gefahr ausgehen, wenn sich essenzielle Werte wie Frauenrechte im Widerspruch befinden. Als Beispiel hierfür führt er die gezielte Verbreitung des politischen Islam in Europa an. Zudem warnt er, dass es in Europa noch zu wenige Spezialisten gibt, um diesem Einhalt zu gebieten.

Wie genau definieren Sie Parallelgesellschaften?

Gesellschaften kann man generell unterschiedlich definieren, es gibt immer voneinander abweichende Rituale und Niveaus innerhalb von Gesellschaften. Wichtig ist dabei, dass die unterschiedlichen Strömungen legal und sichtbar, also nicht geheim sind. Denn geheime Gesellschaften können gefährlich werden. Wobei das aber nicht zwangsläufig der Fall sein muss. Die Freimaurer zum Beispiel sind geheim, von ihnen geht aber keine Gefahr aus. Das trifft auch auf diverse Sekten zu. Das wichtigste Kriterium ist also die Frage, ob eine Parallelgesellschaft gefährlich ist oder nicht.

Wo liegen denn die potenziellen Gefahren bzw. Probleme einer Parallelgesellschaft?

Von einer Gefahr muss dann ausgegangen werden, wenn sich essenzielle Werte im Widerspruch befinden. Etwa die Werte des modernen Europa und die des archaischen, rückwärtsgewandten Islam. In der arabischen Kultur haben Frauen nicht dieselben Rechte wie Männer. Sie dürfen sich beispielsweise nicht bilden, werden früh verheiratet und nehmen nicht am öffentlichen Leben teil. Wenn nationale Werte aufgelöst und pervertiert werden, ist das selbstverständlich eine gefährliche Entwicklung.

Begünstigen Parallelgesellschaften auch Radikalisierungen?

Natürlich. Die Kopfbedeckung ist ein gutes Beispiel dafür. Die Burka etwa ist zwar nur ein Kleidungsstück, aber sie zwingt der Gesellschaft Grenzen auf. Eine verschleierte Person sagt deutlich, dass es ein „Wir“ und ein „Ihr“ gibt. Diese Grenzen in den Köpfen der Menschen sind oft stärker als geografische Grenzen zwischen Ländern. 

Was genau hat das mit Radikalisierung zu tun?

Eine berechtigte Frage, denn man muss präzise sein und darf Themen nicht vermischen. In einer Gesellschaft gibt es immer kulturelle Probleme, das ist ganz logisch. Dann wiederum gibt es Probleme beispielsweise mit der Burka, die zusätzlich ein psychologisches und politisches Problem mit sich bringt. Radikalisierung ist ja ein politisches Problem, das gezielt nach außen gerichtet ist. Vorangetrieben von Menschen, die neue Territorien erobern wollen. Das ist das große Problem – Menschen, die mit Symbolen wie der Burka neue Territorien erobern wollen.

Können Sie das an einem konkreten Beispiel verdeutlichen?

Gern. Ein repräsentatives Beispiel sind religiöse Staaten wie etwa Saudi-Arabien oder Katar, die Menschen in Länder wie Frankreich und Deutschland schicken, um Verbündete zu rekrutieren. Diese Menschen schleichen sich ein, gehen Beziehungen zu Frauen ein, die sich verschleiern müssen, und suggerieren damit, dass sie anders sind als die Mehrheitsgesellschaft. Oder sie gehen in Schulen und fordern dort, dass die Evolutionstheorie nicht mehr gelehrt wird. Oder dass Buben und Mädchen getrennt unterrichtet werden sollen und dass Schwimmbäder unterschiedliche Öffnungszeiten haben müssen, damit dort Buben und Mädchen nicht aufeinandertreffen. Hier kann man nicht mehr von einer rein kulturellen oder religiösen Angelegenheit sprechen. Hier handelt es sich um radikalisierte Kämpfer, die eine politische Expansion des Islam beabsichtigen.  

Wie sollen die Regierungen mit solchen Entwicklungen umgehen? Inwieweit dürfen und sollen sie sich in eine Gesellschaft einmischen?

Das ist eine große Frage, die Sie da stellen. Denn genau um diese Frage geht es bei dieser Debatte. Nehmen wir meine Heimat Algerien als Beispiel, wo es nach einer Revolution zu einer schrittweisen Radikalisierung der Gesellschaft kam. Zunächst in den Familien, dann auch auf staatlicher Ebene. Anfangs fühlte es sich an wie eine normale, natürliche Entwicklung, aber dann wurde klar, dass staatliche Interessen dahintersteckten. Diese Entwicklung war also keine kulturelle, sondern eine politische. Danach war es nicht besonders überraschend, dass sich Gruppierungen wie die Terrormiliz „Islamischer Staat“ bildeten. Die Gegenreaktion darauf war wiederum eine weitere Radikalisierung der Gesellschaft. Und hier gibt es grundsätzlich zwei Richtungen. Die einen verstehen sich als Brückenbauer, die erkennen, dass sich die Gesellschaft immer weiter spaltet und auf einen Konflikt zusteuert. Sie sind der Meinung, dass man Gemeinsamkeiten und Kompromisse finden muss, um das große Ganze zusammenzuhalten. Dann gibt es die zweite Gruppe, die nicht an Kompromisse glaubt, sondern radikale Tendenzen in der Gesellschaft auslöschen und vernichten will.

Wäre Frankreich ein geeignetes aktuelles Beispiel, um diese These zu untermauern?

Ja, gehen wir von Frankreich aus. Die Sozialisten vertreten die erste Strömung – sie wollen Lösungen für die Radikalisierung finden und gefährdete Menschen nach Möglichkeit integrieren. Der Front National hingegen vertritt die zweite Strömung. Er sagt, dass es unmöglich ist, solche Menschen zu integrieren, weil es keinen gemeinsamen Nenner gibt. Er fordert daher, dass diese Menschen in Frankreich keinen Platz haben und woanders leben sollen. Diese Entwicklung wird meiner Meinung nach irgendwann zu einer Art Krieg in Europa führen. Die zunehmende Radikalisierung des Islam und der Gesellschaft lässt keinen anderen Schluss zu. 

Wie kommt es, dass amerikanische Großstädte stolz sind auf ihre Parallelgesellschaften, die sich „China Town“ oder „Little Italy“ nennen, und damit sogar werben, in Europa hingegen eine ganz andere Skepsis herrscht? Liegt es an den Communities in Europa? Liegt es am Islam?

Das höre ich oft. Europa ist aber nicht die USA, das muss man ganz deutlich sagen. Die USA haben eine Wahl getroffen und erlauben es ihren Parallelgesellschaften, abgeschottet zu leben. Europa ist anders organisiert und pocht auf Integration. In Europa verfolgt man eine Politik, wonach es allen relativ gut geht. Dafür müssen sich aber auch alle an dieselben Regeln halten. Lassen wir die Fakten sprechen. Das Problem ist natürlich die Religion. Randbezirke, wo etwa Roma und Sinti leben, gab es in Ländern wie Frankreich und Spanien schon immer. Ab und an passierten dort seltsame Dinge, aber das war im Wesentlichen kein großes Problem. Jetzt beobachten wir aber eine gezielte Ausbreitung einer Religion, nämlich des Islam. Und zwar des politischen Islam. Mit der Ausbreitung dieses politischen Islam begannen die Probleme. Ich wiederhole: Dabei handelt es sich nicht um ein natürliches Wachsen einer Religion, sondern um eine kalkulierte politische Verbreitung. Natürlich sind nicht alle Muslime in Europa radikalisiert. Das ist auch einer der Gründe, warum wir gerade in einem Dilemma stecken.

Denn die Religion der Menschen können wir nicht angreifen – obwohl wir wissen, dass hinter der Ausbreitung des Islam politische Interessen stecken. Daher wissen wir in Europa nicht so recht, was wir tun sollen. Diese Entwicklung führt aber zu Sicherheitsproblemen. Wohin soll das noch führen?

Sagen Sie es. Wohin soll das führen?

Die Vergangenheit hat gezeigt, dass jede Ideologie eine ähnliche Entwicklung hat. Wie bei den Menschen. Man wird geboren, wächst, lebt und stirbt. So ist es auch bei Ideologien. Sie entstehen, breiten sich aus und verschwinden wieder. Das hat man beim Nationalsozialismus, beim Faschismus und beim Stalinismus gesehen. Beim Islamismus befinden wir uns gerade in der Aufstiegsphase. Das wird noch eine Weile so weitergehen, möglicherweise bis zu einem Krieg. Auch der Faschismus konnte nur durch einen Krieg beendet werden.

Den Krieg haben Sie vorhin schon erwähnt. Muss es wirklich zwangsläufig dazu kommen? Was macht Sie so sicher?

Anfangs hätte man das Problem noch ohne Krieg und ohne Waffen lösen können, nämlich politisch. Aber wir haben zu lange gewartet. Die Politik in Europa weiß derzeit nicht, wie sie mit diesem Problem umgehen soll. Sie ist ratlos. In Ländern wie etwa Algerien, Ägypten und Tunesien gibt es keine nennenswerten demokratischen Strukturen, dort herrschen das Militär und die Polizei. Das ist Alltag, die Menschen kennen das. Daher kann es dort auch jederzeit zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen, was ja auch immer wieder passiert. In Europa hingegen ist das undenkbar, hier würden die Menschen Militärdiktaturen und Polizeiwillkür nicht mitmachen. Die Menschen sind an Demokratie gewöhnt, daher braucht es hier demokratische Lösungen. Nur leider gibt es niemanden, der diese Lösung hat.

Und ohne demokratische Lösungen ist Krieg die logische Folge?

Soweit könnte es kommen.

Sie haben auch keine Idee für eine demokratische Lösung?

Ideen werden immer wieder vorgebracht, einige von ihnen sind moralisch inakzeptabel. Jene in den USA beispielsweise, wo versucht wird, Probleme militärisch zu lösen. Aber die USA will nun einmal, dass Kriege nicht in den USA oder Europa stattfinden, sondern in Ländern wie Syrien, wo der Radikalismus seinen Ursprung hat und von wo aus diese Strömungen gesteuert werden. Das ist die amerikanische Lösung. Auch die Europäer wollen keinen Krieg in Europa haben und versuchen daher, Länder wie Algerien und Ägypten militärisch zu unterstützen. Das muss man ebenfalls moralisch verurteilen, weil es für die Islamisierung Europas politische Lösungen braucht, keine militärischen. Nehmen wir den Krieg in Syrien: Europa hilft unter anderem den Türken und Kurden dabei, die aus Europa in den Krieg gezogenen Dschihadisten zu bekämpfen – denn dann sterben die Islamisten dort. Hauptsache, der Krieg ist weit weg. Solange der Krieg nicht auf europäischem Boden stattfindet, kann man intelligente Lösungen finden, die wir, wie gesagt, noch nicht gefunden haben. 

Aber wie könnte so eine intelligente politische Lösung aussehen? Haben Sie gar keinen Vorschlag?

Derzeit gibt es keine politische Lösung in Europa. Ich habe auch keine zu bieten. Ein großes Problem ist, dass Europa den Islam und die Gefahren, die von ihm ausgehen, nicht kennt. In Europa mangelt es an Spezialisten, die sich in praktischen Belangen auskennen. Es wird in dieser Hinsicht zwar geforscht, aber zu wenig. In Europa gibt es eine Ausprägung des politischen Islam, die anders ist als der politische Islam in arabischen Ländern oder jener in den USA. Früher kamen Tunesier und Algerier nach Europa und nahmen den Islam mit, heute konvertieren Europäer zum Islam und ziehen in den Dschi­had. Hier wurde etwas gepflanzt, was wächst und zum Problem werden wird.

Boualem Sansal ist einer der bekanntesten französischsprachigen Schriftsteller und ein anerkannter Religionskritiker. Er ist promovierter Volkswirt und arbeitete zuvor im algerischen Industrieministerium. Nach Veröffentlichung seines ersten Romans „Der Schwur der Barbaren", für den er mit dem „Prix du Premier Roman“ ausgezeichnet wurde, wurde er als Direktor im algerischen Industrieministerium entlassen. 2011 wurde Sansal mit dem „Friedenspreis des Deutschen Buchhandels“ ausgezeichnet. 2015 erschien seine viel diskutierte Dystopie „2084“. Für diesen Roman erhielt er den renommierten französischen Literaturpreis „Grand Prix du Roman“. Derzeit lebt er in Algerien.

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