08 Gemeinschaft

„Eines der ersten Zeichen für den Verlust des Zusammenhalts innerhalb einer Gesellschaft ist Respektlosigkeit.“

Interview mit David Miller

Für David Miller ist eines der grundlegenden Merkmale einer solidarischen Gesellschaft, dass ihre Mitglieder auch künftig weiterhin gemeinsam leben möchten sowie eine gemeinsame Autorität respektieren. Zusammenhalt ist vor allem wichtig, weil hierdurch eine Gesellschaft gestärkt gegenüber externem Druck auftreten kann.

Wie genau definieren Sie eigentlich ­Zusammenhalt in einer Gesellschaft?

Eines der grundlegenden Merkmale einer solidarischen Gesellschaft ist, dass ihre Mitglieder auch weiterhin gemeinsam leben möchten und eine gemeinsame Autorität respektieren. Sie sehen ihre Mitbürger nicht als Fremde, mit denen sie ihre Heimat nicht teilen möchten.

Würden Sie das als den wesentlichen Unterschied zwischen einer solidarischen und nicht-solidarischen Gesellschaft bezeichnen?

Eine solidarische Gesellschaft weist viele große Unterschiede zu einer voneinander abgeschotteten Gesellschaft auf: In einer abgeschotteten Gesellschaft verbringen die Menschen ihr Leben überwiegend in ihren eigenen Communitys und haben nur wenig mit den Angehörigen der anderen Gruppen zu tun. Zusammenhalt ist vor allem deshalb wichtig, weil durch ihn eine Gesellschaft gestärkt gegenüber externem Druck auftreten kann. Die Mitglieder der Gesellschaft suchen gemeinsam nach Lösungen für ihre Herausforderungen. Sie wissen, dass sie die Schwierigkeiten nur gemeinsam bewältigen können, und niemand denkt auch nur im Entferntesten daran, das sinkende Schiff zu verlassen. Dabei geht Solidarität weit über den simplen Zusammenhalt hinaus: Die Menschen identifizieren sich so stark mit ihren Mitbürgern, dass sie mitfühlen und helfen wollen, wenn diesen etwas Schlimmes passiert. Daher rührt etwa auch die Spendenbereitschaft nach Naturkatastrophen wie etwa nach Erdbeben oder Überflutungen. Aber auch die Bereitschaft, in einem System der sozialen Gerechtigkeit einen Beitrag zu leisten, in dem zumindest die Deckung der Grundbedürfnisse gesichert wird, hat ihre Wurzeln in einer solidarischen Gesellschaft.

Von welchen Faktoren hängt Zusammenhalt in einer Gesellschaft Ihrer Einschätzung nach ab?

Das Wichtigste ist, dass es eine gemeinsame Identität gibt, die eine Brücke schlägt zwischen den einzelnen Identitäten wie etwa gesellschaftliche Schicht, Ethnie, Religion, Geschlecht etc. Ein zweiter wichtiger Faktor ist, dass es wohlfahrtsstaatliche Einrichtungen gibt, die allen Bürgerinnen und Bürgern offenstehen. Das Gefühl, dass alle Zugang zu denselben Einrichtungen und Institutionen haben, die ihre Bedürfnisse erfüllen und ihnen Chancen bieten, fördert den Zusammenhalt in einer Gesellschaft. Drittens, die Existenz einer Gefahr von außen. Hierbei ist es eigentlich irrelevant, ob es sich um ein echtes Bedrohungsszenario handelt oder nicht. Die Menschen werden dennoch die Sicherheit innerhalb der eigenen Gesellschaft suchen.

Sind besonders plurale Gesellschaften, die multikulturell geprägt sind, stärker gefährdet, ihren Zusammenhalt zu verlieren?

Hier sind zwei Dinge wichtig: Ja, in multikulturellen, pluralen Gesellschaften gibt es spezifische Herausforderungen, was den Zusammenhalt angeht: Die Identitäten einzelner Gruppen können so beherrschend und bestimmend werden, dass sich ihre Mitglieder nicht mehr dem „großen Ganzen“, der gemeinsamen nationalen Identität zugehörig fühlen. Das passiert vor allem dort, wo eine Kultur von politischen Kräften so manipuliert wird, dass sich ihre Mitglieder von anderen Gruppen deutlich abgrenzen wollen, was zur Entstehung von Parallelgesellschaften führen kann. Die Mitglieder dieser Gruppen wollen nichts mehr mit der Mehrheitsgesellschaft zu tun haben und sehen sie als feindliche Gruppe.

Fallen Ihnen Ereignisse und Entwicklungen ein, die typische Beispiele dafür sind, den Zusammenhalt zu erschüttern? Oder anders gefragt: Was sind erste Anzeichen dafür, dass in einer Gesellschaft der Zusammenhalt verloren geht?

Der Ausbruch eines Bürgerkriegs, wie zuletzt beispielsweise in Ruanda oder Sri Lanka, ist wohl die extremste Manifestation des Zusammenbruchs jeglichen Zusammenhalts innerhalb einer Gesellschaft. Im Fall von Ruanda und Sri Lanka waren die Spannungen zwischen den einzelnen ethnischen Gruppen so stark, dass jede Seite die jeweils andere als Feind betrachtet hat, der nur durch den Einsatz von Gewalt niedergerungen werden konnte. Eines der ersten Zeichen für den Verlust des Zusammenhalts innerhalb einer Gesellschaft ist Respektlosigkeit. Selbstverständlich gibt es in jeder Gesellschaft politische Differenzen – aber es ist ein Unterschied, ob man seinem politischen Gegner zugesteht, eine andere Überzeugung zu vertreten, oder ob man in Zweifel zieht, dass er einen Platz innerhalb der Gesellschaft haben sollte. Die Sprache, die in politischen Debatten gepflegt wird, kann also ein sehr guter Indikator sein, wie es um den Zusammenhalt einer Gesellschaft bestellt ist.

Apropos Politik. Wie kann man den Zusammenhalt seitens der Politik fördern?

Politiker können den Zusammenhalt sowohl fördern als auch gefährden. Letzteres trifft zu, wenn sie politische Gegner nicht mit Respekt behandeln. Nicht wie Menschen, die zwar eine andere Meinung vertreten, aber die sie als Mitbürger respektieren und mit denen sie zusammenarbeiten müssen. Politiker können aber auch einen positiven Einfluss auf den Zusammenhalt einer Gesellschaft haben: wenn sie eine Politik verfolgen, die die Menschen zusammenbringt und den Fokus darauf legt, was eine Gesellschaft zusammenhält.

Und was kann der Einzelne tun?

Der Einzelne kann etwa vermeiden, Dinge zu tun, die eine soziale Spaltung weiter vorantreiben. Beispielsweise mag es gute Gründe geben, warum man sich entscheidet, in einem bestimmten Viertel zu wohnen. Dennoch kann diese Entscheidung dazu führen, dass die ethnische oder religiöse Segregation innerhalb einer Gesellschaft stärker wird. Die Politik hat hier eine ganz besonders wichtige Rolle inne.

Welche Folgen haben die Herausforderungen der Flüchtlingsintegration auf den Zusammenhalt?

Momentan stammen viele Flüchtlinge aus Gesellschaften mit kulturellen Traditionen, die ganz anders sind als jene in den Staaten, in die sie flüchten, was ein großes Hindernis für ihre Integration darstellen kann. Ob ihre Integration gelingt, hängt auch davon ab, ob die Aufnahmegesellschaft Maßnahmen entwickelt hat, um mit dieser Herausforderung umzugehen: Wichtig ist zum Beispiel, dass es starke zivilgesellschaftliche Gruppen gibt, die die ankommenden Flüchtlinge dabei unterstützt, eine Unterkunft zu finden und auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Es ist ganz natürlich, dass Flüchtlinge sich eher dorthin orientieren, wo bereits Menschen aus ihren Herkunftsländern leben. Aber wenn sie sich wirklich an ihre neue Umgebung anpassen wollen, müssen sie auch Kontakte zu Einheimischen suchen.

Welche Rolle nehmen die Religion, insbesondere der Islam, sowie unterschiedliche Kulturen dabei ein?

Religion kann eine große Hürde für eine gelungene Integration darstellen, wie wir häufig bei Flüchtlingen aus islamisch geprägten Gesellschaften sehen können. Das hat aber nicht immer tatsächlich mit der Religion selbst zu tun, sondern mit Missverständnissen im Hinblick auf die Erwartungen auf beiden Seiten. In liberalen Gesellschaften ist Religionsfreiheit ein Grundrecht – von niemandem sollte also verlangt werden dürfen, seinen Glauben aufzugeben, ihn nicht mehr auszuüben. Andererseits jedoch wird die Art der Religionsausübung in einer multikulturellen Gesellschaft anders sein als in einer Gesellschaft, in der nur eine Religion vorherrscht. Hier ist es wichtig, Andersgläubige zu respektieren. Daher braucht es Regeln, wie etwa öffentlicher Raum in diesen Gesellschaften genutzt werden darf – beispielsweise bei der Frage, ob der muslimische Gebetsruf öffentlich übertragen werden darf.

Fördern oder behindern Religionen grundsätzlich den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt in einer pluralen Gesellschaft?

Prinzipiell ist Zusammenhalt in einer Gesellschaft wahrscheinlich leichter zu bewahren, wenn die Mehrheit der Bevölkerung derselben Religion angehört, Religion daher Teil der nationalen Identität ist. Dennoch ist es aber keinesfalls so, dass Religion in pluralistischen Gesellschaften keine einende Rolle spielen kann. Für religiöse Minderheiten kann allerdings ein säkularer Staat viel befremdlicher wirken als eine Gesellschaft, in der eine bestimmte Religion aus historischen Gründen vorherrscht und ihre Traditionen gelebt werden. Unter diesen Umständen ist ein ernsthafter interreligiöser Dialog gefragt, der dazu führen kann, dass Anhänger verschiedener Glaubensrichtungen ihre gemeinsamen Wurzeln entdecken. Auf diese Weise können religiöse Minderheiten auch dort politische Anerkennung erfahren, wo – etwa bei öffentlichen Feierlichkeiten oder anderen Anlässen – eine andere Religion vorherrschend ist.

David Miller ist einer der bekanntesten politischen Philosophen Großbritanniens. Er ist Professor für Politische Theorie in Oxford. Zu seinen Publikationen gehören unter anderem „Strangers in Our Midst: the political philosophy of immigration“ und „Justice for Earthlings: essays in political philosophy“.

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