09 Schule und Migration

„Es geht viel um gegenseitige Wertschätzung – das ist durchaus eine Haltung, die man in der Schule lernen kann“

Interview mit Walter Emberger

 

Walter Emberger bekräftigt, dass religiöses Mobbing, Verbalattacken, Drohungen und Übergriffe auf Lehrer/innen und Schüler/innen nicht geduldet werden dürfen. Seine Erfahrung zeigt, dass Kinder schnell merken, wenn sie ernst genommen werden, und entsprechend reagieren.

Viele Kinder mit nichtdeutscher Muttersprache können nicht ausreichend Deutsch sprechen, wenn sie eingeschult werden. Eine beachtliche Anzahl von Jugendlichen kann zudem nach dem Pflichtschulabschluss nicht ordentlich lesen und schreiben. Wie kann man das verhindern?

Der Steuerzahler gibt pro Schüler in Österreich rund 10.000 Euro jährlich aus, im OECD-Schnitt sind es 7.000 Euro. Er kann also überdurchschnittliche Ergebnisse verlangen. Er bekommt stattdessen über ein Fünftel „Risikoschüler“, die die einfachsten Sachen nach neun Pflichtschuljahren nicht können. Das regt ihn auf. Ich verstehe das. Ich bin überzeugt, dass hohe Erwartungen ein Schlüssel sind zur Lösung: hohe Erwartungen an die Schüler, an die Lehrer und an das System.

Dann beginnen wir gleich mit dem System: Was halten Sie von eigenen Schulklassen für Kinder mit nichtdeutscher Muttersprache, damit sie gezielt gefördert werden und schneller Deutsch lernen, um in gewöhnliche Klassen integriert zu werden? Oder ist es besser, von Anfang an auf eine Durchmischung zu achten?

Schwierige Frage. Ich habe in den letzten Wochen viel mit Experten beider Richtungen gesprochen, die sehr leidenschaftlich die eine Variante gelobt und ebenso leidenschaftlich die andere als unwirksam bzw. organisatorisch undurchführbar abgetan haben. Ich möchte den Experten hier nicht eine weitere Meinung hinzufügen. Ich würde mich für eine Variante entscheiden und die dann ordentlich durchführen, und keine Energie darauf verwenden, der anderen Expertenfraktion die Nichtdurchführbarkeit ihrer Variante zu beweisen.

In Österreich und Deutschland gilt nach wie vor: je höher der Bildungsabschluss der Eltern, desto besser die Bildungschancen der Kinder. Was kann der Staat hier tun?

Er kann, ja, er muss kompensieren, wenn ihm die Volkswirtschaft und seine Bürger wichtig sind. Er darf die Eltern zwar nicht aus der Verpflichtung für ihre Kinder entlassen, er muss aber für diejenigen Fälle einspringen, in denen die Eltern überfordert sind oder in denen es gar keine Eltern gibt.

Und wie viel Druck bzw. Strafe vonseiten des Staates ist bei der Bildung von Kindern und Jugendlichen erlaubt oder sogar erforderlich? Bei Kindern etwa, deren Eltern den Schwimmunterricht nicht erlauben oder sie nicht auf Ausflüge mitschicken. Oder sie beim Schulschwänzen fördern, indem sie ihre Kinder aus Gleichgültigkeit oder Ignoranz nicht sanktionieren.

Ich habe gehört, dass Österreich das Land mit den meisten Kindern mit Chlorallergie ist. Wenn Kinder nicht in den Schwimmunterricht sollen, finden die Eltern einen Arzt, der Chlorallergie bescheinigt. Jetzt könnte der Staat das verbieten, wir hätten ein 50 Seiten starkes Gesetz und viel Stammtischdiskussion. Wäre es nicht viel gescheiter, wenn die Schule entscheiden kann, wie sie mit dem Thema umgeht? In vielen Fällen wird die Information schon helfen, warum man Schwimmen lernt oder man Ausflüge macht und warum man in die Schule gehen soll. Ich bin ein Freund von Information und Anreizen. Strafen sollten der letzte Ausweg sein und nicht die erste angebotene Alternative.

Viele Eltern sagen, dass die Bildung ihrer Kinder ausschließlich die Aufgabe des Staates, also der Schulen sei. Was sagen Sie diesen Eltern?

Na dann, der Staat sind wir alle. Dass unterschiedliche Familien aber unterschiedliche Mittel haben, um ihre Kinder zu unterstützen, muss uns auch bewusst werden, und diese Ungleichheit sollte die Schule, so gut es geht, ausbalancieren.

Eine Frage zum klassischen Notensystem in Österreich: Was spricht für und gegen Noten von eins bis fünf?

Ich kann jenen Experten etwas abgewinnen, die gegen Noten in den ersten Volksschulklassen sind. Wenn wir aber anderen Bildungsthemen, etwa worauf wir die jungen Leute vorbereiten sollen, genauso viel Platz gäben wie der Notendebatte, könnten wir wirklich etwas für die Schülerinnen und Schüler verändern.

Welchen Themen zum Beispiel? Was sind Ihrer Meinung nach die größten Baustellen im österreichischen Schulsystem? Bzw. wie sollte die (Pflicht-)Schule der Zukunft aussehen? Gibt es Vorbilder aus anderen Ländern?

Man muss gar nicht über die Grenzen schauen, um Vorbilder zu sehen. Was bei uns beispielsweise unter „Schule im Aufbruch“ geschieht, ist ja schon sensationell. Baustellen?

Die gibt es in allen Ländern. Was ich zuerst angehen würde: die Attraktivität des Lehrerberufs steigern und die Öffnung des Berufs, sodass Quereinstieg und -ausstieg leichter werden; die Ganztagsschule als Normalform und nicht als Ausnahme; den laut fast allen Experten zu frühen Übergang mit zehn Jahren um zwei Jahre verschieben; die Verantwortlichkeiten und Kompetenzen klar zuordnen.

Kommen wir zur Integration: Welche Rolle spielt Bildung bei der Integration von Zuwanderern?

Eine große, wahrscheinlich die größte. Sollte ich einmal wo zuwandern müssen, wäre mir lieber, viele Lehrer und wenige Polizisten zu sehen, und nicht umgekehrt. Gerade in den Schulen, in denen Teach For Austria Fellows eingesetzt sind, haben Lehrerinnen und Lehrer einen Bildungs- und Integrationsauftrag. Andere Sprachen und Kulturen kann man als Vorteil und Bereicherung sehen und nicht automatisch als Nachteil. Es geht viel um gegenseitige Wertschätzung – das ist durchaus eine Haltung, die man in der Schule lernen kann.

Welche wichtigsten Formen von Bildung unterscheiden Sie persönlich?

Ganz unwissenschaftlich Grundbildung und Herzensbildung. Grundbildung sind die für ein Leben in unserer Gesellschaft notwendigen Fertigkeiten, also Lesen, Schreiben, Rechnen, Reden, mit seinem Körper nachhaltig umgehen, sich bewegen, sich ernähren, mit meinen Mitmenschen umgehen, gut mit Technologie umgehen. Herzensbildung ist alles, was uns vom Roboter unterscheidet.

Fallen Ihnen ein paar gelungene Beispiele für die Integration von Menschen durch Bildung ein?

Unsere Fellows unterrichten in mehr als 40 Schulen und sie berichten ständig über Schülerinnen und Schüler, die Bildung als ihre Chance erkannt haben. Ich war neulich beim Besuch der Werkstätten der Salzburger Festspiele mit zwei Fellow-Klassen, eine davon aus dem zweiten Bezirk. Beim Foto mit der Festspielpräsidentin stand ich neben Arman, einem afghanischen Mädchen. Sie sagte mir, dass sie erst vor vier Jahren nach Österreich gekommen ist und vorher noch nie in einer Schule war. Ihr Deutsch war akzentfrei und gut. Sie ist jetzt Klassensprecherin. Der Blick in diese strahlenden Augen hat mich überzeugt: Hier ist Integration gelungen.

Immer wieder erzählen Lehrer, vor allem Lehrerinnen, von Problemen mit Schülern mit Migrationshintergrund, die die Autorität der Lehrpersonen nicht akzeptieren wollen, sie beispielsweise nicht ernst nehmen oder ihnen nicht die Hand geben. Wie geht man seitens der Schule mit einem solchen Verhalten am besten um?

Unsere Erfahrung ist, dass Lehrpersonen, die ihre Schüler ernst nehmen, von diesen auch ernst genommen werden.

So einfach ist das aber nicht immer. Manche Schüler reagieren auf Respekt nicht unbedingt mit Respekt, sondern betrachten das als Schwäche der Lehrer, machen sich sogar lustig über sie. Das ist jedenfalls das, was Lehrer schon oft berichtet haben. Wie reagiert man in solchen Fällen?

Unsere Erfahrung seit sechs Jahren ist die, dass Kinder schnell merken, wenn sie ernst genommen werden, und entsprechend reagieren. Wie schnell der Beziehungs- und Vertrauensaufbau geht, ist natürlich unterschiedlich. Bei manchen wird es länger dauern und mehr Energie kosten als bei anderen. Trotzdem glaube ich: Wer von Kindern nichts erwartet, sich nicht für sie interessiert oder ihnen gar mit Zynismus begegnet, der darf auch nicht erwarten, von ihnen respektiert zu werden. Das bedeutet nicht, dass religiöses Mobbing, Verbalattacken, Drohungen und Übergriffe auf Lehrer sowie Schüler geduldet werden dürfen. Man darf das nicht dulden. Man darf das nicht klein- oder schönreden oder gar ignorieren. Man soll solche Vorfälle aber auch nicht hypen, denn das Potenzial dazu haben sie.

Aber was ist Ihrer Meinung nach grundsätzlich die Ursache dieser Entwicklung?

Wir leben in einem aufgeregten Zeitalter. Objektiv ging es uns noch nie so gut wie jetzt, subjektiv fühlen sich viel mehr Leute als noch vor 30 Jahren ausgeschlossen vom gesellschaftlichen Leben, sie wählen nicht oder einen Demagogen. Wir leben laut Thomas Friedmans neuem Buch „Thank You For Being Late“ in einer Welt mit drei Beschleunigungen, die uns alle überfordern: Beschleunigung der Technologie, der Umweltveränderung und der Märkte.

Die Flüchtlingsbewegungen der vergangenen Jahre waren zuletzt das dominierende innenpolitische Thema. Welchen Einfluss können solche Bewegungen auf diese Entwicklung haben?

Sie zeigen, wie global verflochten wir inzwischen sind. Und sie zeigen, dass wir durch die ständige Aufgeregtheit die Vergangenheit vergessen: Wir hatten schon Flüchtlingswellen, die zu Aufgeregtheit geführt haben, und die jetzt allesamt vergessen sind.

Auch antisemitische Vorfälle häufen sich in Schulen. Wie geht man mit dieser konkreten Entwicklung am besten um? 

Man darf solche Nachrichten im Zeitalter der „Fake News“ nicht immer gleich für bare Münze nehmen, sondern sollte sie nochmal checken. Ich war vor Kurzem in Tel Aviv und man sagte mir, dass im letzten Jahr mehr als 10.000 Juden aus Frankreich dorthin gesiedelt sind, weil sie sich in Frankreich nicht mehr sicher fühlen. In dem von Ihnen angesprochenen Fall würde ich vom Reflex des Bestrafens abraten, das heizt die Spirale nur an. Natürlich ist Bestrafen eine Option, manchmal die einzige, aber man sollte sie erst anwenden, wenn andere Reaktionen nicht fruchten, zum Beispiel Information, Einbindung, Besprechung des Vorgefallenen. Auch der Umgang mit den unendlichen Möglichkeiten der neuen Technologien muss im Unterricht thematisiert werden, die Skala reicht ja hier von diesen Videos und Cybermobbing bis hin zu global verfügbarem Wissen in bisher nie dagewesenem Umfang. Hier liegt viel Verantwortung bei den Lehrern, sie müssen zuerst für diese Aufgabe „medienfit“ gemacht werden.

Mädchen mit Migrationshintergrund sind ja besonders gefährdet, Opfer von religiösem Mobbing in der Schule zu werden. Wie kann man diese Mädchen besser fördern?

Einige unserer Fellows haben sich genau das zur Aufgabe gemacht und unterstützen Mädchen – egal ob mit oder ohne Migrationshintergrund – gezielt dabei, ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Nur als Beispiele: Zwei Fellows unterrichten Sport und haben eine Mädchenfußballmannschaft gegründet, ein anderer liest jeden Tag eine Geschichte aus dem Buch „Rebel Girls“, damit die Kinder wichtige Frauen aus Politik, Wirtschaft und Kunst kennenlernen. Es geht aber auch viel um kleine Gesten, um Bewusstseinsbildung für das Thema. Wie spreche ich als Lehrer oder Lehrerin mit Buben, wie mit Mädchen, welche Erwartungen habe ich an wen? Erst vergangene Woche sind sechs Mädchen aus dem erwähnten Fußballteam bei einer unserer Veranstaltungen auf der Bühne gestanden – übrigens alle mit Migrationshintergund – und haben frei darüber gesprochen, wieso sie Fußball lieben und welche Vorurteile sie vonseiten der Familie aber auch vonseiten der Mitschüler auszuräumen versuchen. Da sieht man wieder, wie viel möglich ist.

Walter Emberger ist ist Gründer und Geschäftsführer von Teach For Austria, einer gemeinnützigen österreichischen Bildungsinitiative mit Sitz in Wien, deren Ziel es ist, bessere Bildungsund Zukunftschancen für Kinder und Jugendliche aus sozio-ökonomisch benachteiligten Familien zu schaffen. 2017 wurde er von der Tageszeitung „Die Presse“ zum „Österreicher des Jahres“ in der Kategorie „Humanitäres Engagement“ ausgezeichnet.

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