03 Menschen türkischer Herkunft in Österreich
Perspektiven Integration
„Es müsste mehr Burschen- und Männerarbeit gemacht werden – in den Moscheen ebenso wie in den Migrantenvereinen.“
Interview mit Berivan Aslan
Berivan Aslan fordert in Österreich den sofortigen Stopp von Lobby Organisationen, die aus der Türkei gesteuert werden. Sie warnt davor, dass das Hineintragen der Politik eines anderen Landes die hart erarbeitete Integrationskultur in Österreich bedroht.
Wie wird Ihrer Meinung nach das Referendum zur Verfassungsänderung in der Türkei am 16. April ausgehen?
Ich kann es derzeit nicht einschätzen, obwohl ein Kopf-an-Kopf-Rennen wahrscheinlicher wird. Die Spannung in der Türkei nimmt massiv zu und die türkische Politlandschaft kann sich jederzeit ändern, sogar ein neuerlicher Putschversuch ist meiner Einschätzung nach nicht auszuschließen.
Welche Rolle werden die jüngsten Eskalationen in den Niederlanden, Deutschland und anderen EU-Ländern dabei spielen?
Meiner Meinung nach gibt es in der Türkei keine Spaltung zwischen Türken und Kurden, sondern eine Spaltung zwischen Demokraten und Anti-Demokraten. Aus diesem Grund würde eine differenzierte Analyse diesbezüglich zur besseren Aufklärung bei uns führen. Die Reaktionen der demokratischen Kräfte und Personen in der Türkei sind leider medial unsichtbar, weil ihre Position zu aktuellen Ereignissen durch die Medienzensur nicht vorkommt. De facto bemerke ich aus den Social-Media-Beiträgen, dass sie sich aufgrund der jüngsten Eskalationen von der EU nicht im Stich gelassen fühlen. Ihre Erwartungshaltungen gegenüber der EU haben sich wieder reaktiviert und sie fühlen sich in ihrer Haltung gegen Präsident Erdogan bestärkt. Ich glaube auch nicht, dass die Opferrolle der AKP-Regierung zu mehr „Ja“-Stimmen führt, wie es derzeit von manchen Kreisen behauptet wird. Seit den Gezi-Protesten hat die AKP-Regierung ihr Wording zur EU-Politik geändert. Diese Opferrolle wird seit Jahren von der AKP-Regierung induziert. Es mag sein, dass diese Eskalationen die AKP-Wählerschaft in ihrer Überzeugung bestärkt hat, aber sie führt nicht zu einer enormen Stimmenmaximierung. Ich finde es auch nicht zeitgemäß, Erdogan als Opfer darzustellen. Das wäre eine Relativierung und Verachtung der Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Menschen- und Frauenrechte.
Wie bewerten Sie das Vorgehen der türkischen Regierung im Zusammenhang mit der Wahlwerbung bei Auslandstürken in Europa? Welche Strategie steckt dahinter?
Ich finde die Reaktion äußerst provokativ und hetzerisch, dabei wurde die Situation der türkeistämmigen Europäer nicht berücksichtigt. Die Debatte hätte diplomatisch einen ganz anderen Effekt gehabt und hätte sich am Ende für alle ausgezahlt. Die Situation ist für die türkeistämmigen Bürger in Europa äußerst unangenehm. Auf der einen Seite erleben sie den europäischen Rechtsruck, auf der anderen Seite wird von ihnen verlangt, dass sie sich zu ihrem „Vaterland“ bekennen. Dieser Druck bringt nur noch mehr gesellschaftliche Schieflagen mit sich.
Wie werden sich diese Ereignisse auf das Zusammenleben zwischen der türkischen Bevölkerung und der Mehrheitsgesellschaft auswirken? Bzw. auf das Zusammenleben innerhalb der inhomogenen türkischen Bevölkerung in Österreich?
Ich finde es verantwortungslos, wenn Politiker aufgrund persönlicher Profitmaximierung unsere jahrzehntelange Integrationsarbeit zerstören. Damit meine ich konkret die AKP-Spitze. Die türkeistämmigen Bürger gehören zu Europa, haben ihren Lebensmittelpunkt in Europa, haben Patch-Work-Identitäten und eine bikulturelle Lebensweise. Sie haben verschiedene Identitäten in ihrer Brust und das ist eine Bereicherung für das bunte Europa. Dieser Zustand wird destabilisiert und den Menschen wird das Zugehörigkeitsgefühl weggenommen, in dem man ihnen das Gefühl gibt, sie wären „eh nie integriert“ gewesen und werden „eh immer als Mensch zweiter Klasse“ behandelt. Menschen werden aufgrund dieser importierten Politik aus der Türkei kategorisiert, auch innerhalb der türkeistämmigen Community. Sie werden zu regierungsnahen und regierungsfernen Aleviten, zu AKP- und PKK-Kurden, zu guten Muslimen und islamfeindlichen Laizisten, zu Nationalisten und Staatsverrätern etc. separiert. Obwohl Menschen mit Migrationshintergrund eine Minderheit in der Mehrheitsgesellschaft bilden, werden wiederum Minderheiten in der Minderheitengesellschaft konstruiert. Wir müssen wieder versuchen, unsere Gemeinsamkeiten in den Vordergrund zu stellen und dürfen uns von diesem populistischen Stil nicht spalten lassen. Das hält uns von wahren Problemen wie zum Beispiel Globalisierungspolitik ab, die wir dringend gemeinsam bewältigen müssen.
Was sagen Sie zu dem in diesem Kontext ausgesprochen harten Umgang von Österreich und der EU mit der Türkei? Von vielen österreichischen Politikern sind ja sehr deutliche Worte wie „Quasi-Diktatur“ etc. gefallen.
Seit Jahren kritisiert die EU-Spitze den Präsidenten Erdogan für seine antidemokratische Politik, jedoch blieb diese Kritik nur bei einer Ankündigungspolitik. Die meisten europäischen Regierungen hatten Angst, dass Erdogan die Flüchtlinge nach Europa schickt und sie ihre Regierungssitze an rechte Parteien verlieren könnten. Während Europa andere Prioritäten setzte, wurden demokratische Kräfte in der Türkei im Stich gelassen, die für die Stabilisierung der Türkei eine wichtige Rolle spielten und immer noch spielen. Sie wurden stigmatisiert, diskriminiert, suspendiert, eingesperrt und sogar ermordet. Der „erdoganische Machterhalt“ wurde de facto geduldet. Hauptsache, es kommen keine Flüchtlinge nach Europa. Ohne zu ahnen, dass im Falle einer weiteren Eskalation statt zwei Millionen Flüchtlingen wahrscheinlich zehn Millionen Flüchtlinge vor den Toren Europas stehen werden. Es wurde auch zugeschaut, wie der Waffenstillstand zwischen der PKK und AKP beendet wurde. Die EU hätte hier eine Rolle einnehmen und sich für den Friedensprozess zur Verfügung stellen können, schließlich ist die Türkei immer noch ein EU-Beitrittsland und davon hätten alle Beteiligten profitieren können. Es war auch die einmalige Chance, die PKK endgültig durch die HDP zu entwaffnen, den Menschen in der Türkei auch die Möglichkeit zu geben, ihre Rechte auf dem politischen Weg zu lösen. Diese Chance wurde einfach fahrlässig verpasst.
Was schlagen Sie konkret vor? Wie sollen sich Österreich und die EU verhalten?
Es genügt nicht, den Präsidenten Erdogan zu kritisieren oder einen rechtspopulistischen Stil gegen die Türkei zu führen. Wenn wir wirklich eine stabile, friedliche und demokratische Türkei wollen, dann brauchen wir ein alternatives demokratisches Konzept zu Erdogan, denn es gibt auch ein Leben nach Erdogan für die Türkei und ihre Bevölkerung. Auf Kosten der Menschenrechte wurde ein Flüchtlingsdeal vereinbart, auf Kosten der Demokratie darf nicht auch noch die türkeistämmige Bevölkerung wegen Erdogan bestraft werden. Ein Abbruch der Türkei-EU-Beitrittsverhandlungen würde zur Isolierung der Türkei und die Türkei mehr in Richtung einer rechtskonservativen und islamischen Regierung führen. Eine Aussetzung der Verhandlungen hingegen würde den demokratischen Kräften in der Türkei mehr Rückhalt geben und die Rolle der EU in der Türkeipolitik immer noch aufrechterhalten. Diese Strategie würde auch dazu führen, die demokratischen Kräfte in der Türkei zu unterstützen, um ein alternatives Konzept zu Erdogan zu entwickeln.
Deniz Yücel, ein deutsch-türkischer Journalist, befindet sich immer noch in Haft. Viele andere türkische Journalisten beklagen eine Einschränkung der journalistischen Freiheit. Wie beobachten Sie diese Entwicklung?
Die türkische Pressefreiheit – und damit auch der Qualitätsjournalismus – liegt im Koma und wartet auf die Versorgung seitens internationaler Akteure.
In Österreich leben rund 200.000 bis 300.000 Personen türkischer Abstammung. Wie gut ist diese Gruppe Ihrer Meinung nach integriert?
Richtig wäre die Bezeichnung türkeistämmig, da nicht alle türkischer Abstammung sind. Auch die ganzen Minderheiten in der Türkei haben einen türkischen Pass. Aber ich glaube, man kann sehr wohl sagen, dass ein Großteil der türkeistämmigen Menschen, die in Österreich leben, aus einer religiösen, traditionell orientierten Familienstruktur kommt und sich dann offensichtlich schwer tut, sich zu integrieren. Das ist nichts Neues, das hat es immer gegeben, auch vor der Erdogan-Ära. Diese Menschen leben in Gegenden, in denen die Mieten billig sind. Dort wurden bewusst Gemeindewohnungen gebaut, um den Migrantenanteil im Stadtzentrum gering zu halten. Damit ist eine Ghettoisierung entstanden. Das zweite wichtige Problem ist die Sprache. Sie arbeiten meist in Jobs, in denen der Migrantenanteil hoch ist, in denen also schon viele Türkeistämmige arbeiten. Die einzige Person, die mit ihnen überhaupt deutsch spricht, ist wahrscheinlich der Abteilungsleiter oder der Vorgesetzte. Und sogar der redet mit ihnen nicht korrektes Deutsch. Am Wochenende sind sie dann meistens unter sich. Sie sitzen in den türkischen Cafés oder unternehmen etwas, zu Hause haben sie einen türkischen Fernseher, der natürlich einen massiven Einfluss auf die Integration dieser Menschen in Österreich hat.
Welchen Einfluss haben Organisationen aus der Türkei auf die Türken in Österreich?
Diese zahlreich gegründeten Lobby-Organisationen haben dazu geführt, dass sich die Menschen stärker an der Politik ihres Heimatlandes orientieren. Die daraus entstandene Isolation hat inzwischen immer mehr Folgen auf unsere Integrationspolitik, weil von diesen Organisationen enormer Hass und Hetze verbreitet werden. Die Menschen, die hier leben, die hier aufgewachsen sind, können sich mit unseren Werten nicht identifizieren, das ist ein massives Problem. Gleichzeitig hat aber auch die andere türkeistämmige Gruppe, die demokratisch eingestellt ist und sich mit den österreichischen und europäischen Werten identifizieren kann, in Österreich stärker Fuß gefasst. Für sie ist Österreich noch bedeutungsvoller, weil sie wissen, hier leben sie in Freiheit, hier fühlen sie sich zu Hause, hier gibt es niemanden, der sie aufgrund ihres ethnischen oder religiösen Hintergrunds unterdrückt. Es gibt also momentan leider zwei Gruppen – und sie sind nicht – wie das medial oft dargestellt wird – Kurden und Türken. Es ist ein Konflikt zwischen den demokratischen und den antidemokratischen Türkeistämmigen.
Sind die zwei Gruppen in etwa gleich groß?
Das ist schwierig zu sagen, weil viele Menschen Angst haben. Im Moment laufen viele Denunzierungskampagnen, zwar nicht öffentlich, aber sie laufen. Auch deshalb haben viele Angst, Erdogan zu kritisieren. Und deswegen ist es schwierig, herauszufinden, wie groß diese Gruppen sind. Die Menschen trauen sich nicht, auf Facebook etwas zu schreiben, weil sie Angst haben, dass ihre Daten an die türkische Regierung weitergegeben werden und sie dann nicht mehr in ihre Heimat reisen können.
Wo sehen Sie die kritischen Punkte bei der Integration?
Es müsste mehr Burschen- und Männerarbeit gemacht werden – in den Moscheen ebenso wie in den Migrantenvereinen. Dort sollte man eine paritätische Besetzung schaffen, damit vermittelt wird, dass Frauen nicht nur für die Küche gut sind, sondern auch wirklich gestalten können und sollen. Und diese ganzen Lobby-Organisationen, die aus der Türkei gesteuert werden, sollten sofort gestoppt werden, weil wir nicht die Politik eines anderen Landes nach Österreich tragen dürfen. Das zerstört unsere Integrationskultur.
Unter türkischen Zuwanderern ist das Zugehörigkeitsgefühl zum österreichischen Staat im Vergleich zu anderen Herkunftsländern weitaus geringer. So fühlen sich laut einer GfK-Erhebung aus dem Jahr 2016 weniger als die Hälfte der Zugewanderten aus der Türkei dem österreichischen Staat zugehörig. Was ist notwendig, um ein größeres Zugehörigkeitsgefühl zum österreichischen Staat zu schaffen?
Wir brauchen Menschen, die gute Sozialarbeit leisten. Leider waren in Deutschland und auch in Österreich die Salafisten bisher die besseren Sozialarbeiter. Wir konnten diese Jugend nicht erreichen, das haben eher die Salafisten gemacht. Ich habe vorhin von den demokratischen und antidemokratischen Gruppen gesprochen – ich nenne sie bewusst antidemokratisch, weil sie die Todesstrafe befürworten und sich nicht zu allen Menschenrechten bekennen– diese Gruppen, die sich nicht zur Mehrheitsgesellschaft zugehörig fühlen, muss man anderweitig erreichen. Hier sind Sozialarbeiter, Stakeholder und Mentoren aus der türkeistämmigen demokratischen Gruppe gefragt, denn sie kennen sich in diesem Kulturkreis aus und sie können den Menschen die österreichische Kultur- und Politiklandschaft vermitteln.
Im Vergleich zu anderen Herkunftsländern ist die Bildungsbeteiligung Jugendlicher, die in der Türkei geboren wurden, mit 63,3 Prozent besonders gering. Was kann man dagegen tun?
Der Kernpunkt der Integration liegt in der Schulausbildung, dort muss man die Kinder und Jugendlichen abholen. Im Elementarunterricht wäre das sehr wichtig. Die Elternberatung sollte ebenfalls intensiviert werden – nicht nur seitens des Lehrpersonals. Auch die Schuleinrichtung als solche sollte Gespräche mit den Eltern führen. Wenn die Schulen nationalistische bzw. radikal-islamistische Tendenzen bei Eltern bzw. Schülern spüren, sollte sofort mit Einzelgesprächen reagiert werden – denn dann kann es sehr schnell gehen.
Wie sehen die zukünftigen Entwicklungen im Bildungsbereich aus?
Es hängt davon ab, wie sich die AKP-Regierung weiterentwickelt. Meine Vermutung ist, dass sie auf der Fetullah-Gülen-Schiene weiterfahren wird. Die AKP wird höchstwahrscheinlich das Gleiche machen, was die Gülen-Bewegung gemacht hat. Sie werden viel mehr Wert auf Bildung legen, es wird wahrscheinlich viel mehr Privatschulen geben. Der Nachteil dieser Schulen ist, dass keine öffentlichen Gelder in sie fließen. Dass man also nicht kontrollieren kann, was dort wirklich unterrichtet wird. Meine Befürchtung ist daher, dass sich Schulen bilden, die junge Leute noch mehr für die Interessen einer Partei oder eines anderen Staates vereinnahmen. Die Integrationsarbeit darf nicht unter den Interessen eines Machtpolitikers leiden. Dagegen sollten wir alle etwas unternehmen. Aus meiner Sicht sollten wir in Bildung und Sozialarbeit investieren, um notwendige Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit zu leisten. Sonst sagen diese jungen Leute: „Die österreichischen Einrichtungen können mir eh nichts anbieten.“
Im Vergleich zu anderen Herkunftsländern nimmt nur eine Minderheit (42 Prozent) der türkischen Frauen am Erwerbsleben in Österreich teil. Was sind die Gründe dafür?
Das Frauenproblem ist leider kein ethnisches oder religiöses. Es ist wirklich ein soziales Problem. Bei den Türkeistämmigen spielt es eine Rolle, dass ein Teil dieser Frauen sehr kulturell erzogen wird. Viele dieser intelligenten und talentierten Mädchen machen die Hauptschule fertig und werden danach mit einem Cousin oder Bekannten der Familie aus der Türkei verheiratet. Dann können sie nicht einmal eine Lehre machen, sondern müssen direkt arbeiten, weil sie für die Familienzusammenführung ein hohes regelmäßiges Einkommen nachweisen müssen. Das wiederum führt dazu, dass diese jungen Frauen ihren Bildungsweg nicht weiterführen können und keinen Abschluss haben. Danach finden sie keinen Zugang mehr zur Bildung. Denn dann haben sie schon Kinder oder müssen sich um den Mann kümmern, der oftmals nicht Deutsch kann. So werden die Frauen ungewollt komplett aus der Bildungsschiene hinausgedrängt.
Wie schätzen Sie die zukünftige Entwicklung dieser Faktoren ein?
Ich denke, sie werden die Hälfte der Einwanderer betreffen. Seit drei Jahren befindet sich die Türkei in einer starken wirtschaftlichen Krise. Viele, die hier leben, haben Verwandte in der Türkei, die sie kontinuierlich finanziell unterstützen. Da liegt der Gedanke nahe, der Familie nachhaltiger mit einer Heirat zu helfen: Die eigene Tochter soll ihren Cousin aus der Türkei heiraten, damit der nach Österreich kommen und selbst für die Eltern in der Türkei sorgen kann. Die Zwangsverheiratung hat primär einen wirtschaftlichen Gedanken. Sie steht ja weder in der Religion festgeschrieben, noch hat sie irgendeine kulturelle Geschichte. Sie ist primär wirtschaftlich begründet, was viele nicht wissen.
In Wien sind türkische Staatsangehörige die größte Gruppe der ausländischen Mindestsicherungsbezieher (BMS). Was sind die Gründe dafür?
Sprachkenntnisse, mangelnde Ausbildung beziehungsweise gar keine Ausbildung. Bei den Frauen spielt zudem die Familie eine Rolle – viele wollen nicht, dass ihre Frauen und Töchter arbeiten, sondern zu Hause bleiben. Teilweise dürfen die Mädchen nicht einmal selbst bestimmen, welchen Beruf sie erlernen oder wo sie arbeiten.
Wie kann man in dieser Hinsicht die Personen stärker fördern?
Es braucht mehr Bewusstsein darüber, was der Sinn von Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld ist. Man bezieht Arbeitslosengeld nicht, weil man das Recht darauf hat, sondern weil man für den Arbeitsmarkt zur Verfügung steht. Es geht nicht darum zu sagen: „Jetzt darf ich ein paar Monate zu Hause bleiben, das ist mein Recht.“ Wenn man das Geld verbraucht, werden andere, die es wirklich nötig haben, keines mehr kriegen. Und das gleiche kann irgendwann auch einem selber passieren. Diese Idee muss stärker vermittelt werden.
Wie schätzen Sie das Thema der Doppelstaatsbürgerschaft bei der türkischstämmigen Bevölkerung in Österreich ein?
Es gibt viele Leute, die eine Doppelstaatsbürgerschaft haben, es aber nicht sagen. Bei der Einreise in die Türkei zeigen sie den türkischen Pass vor und bei der Einreise nach Österreich den österreichischen. Es spricht nichts dagegen, weil es auch eine gewisse Freiheit ist, sich entscheiden zu können, wo man leben und Zeit verbringen will. Problematisch ist es dann, wenn Menschen Jugendliche deshalb für den IS rekrutieren.
Denken Sie, dass das Phänomen der Doppelstaatsbürgerschaft sehr verbreitet ist? Die Daten dazu sind ja nicht vorhanden.
Ja, das glaube ich, schon allein deshalb, weil viele sich nicht trauen, komplett in die Türkei zurückzukehren. Weil sie nicht wissen, wie sich die politische Situation verändern wird. Für sie ist es eine Art Garantie: Wenn ihnen in der Türkei etwas passiert, wissen sie, dass sie wieder nach Österreich zurück können.
Sie haben den IS angesprochen. Wie schätzen Sie das Risiko der Radikalisierung in der türkischen Community in Österreich ein?
Es hat eine Studie aus Deutschland gegeben, dass jeder vierte oder fünfte IS-Sympathisant ein Türke sei. Ich glaube auch, dass die IS-Rate bei den Türken sehr hoch ist.
Wo sehen Sie da die Gründe?
Das hat wieder mit der Politik des Heimatlandes zu tun. Erdogan hatte sehr viele gemeinsame Interessen mit dem IS. Das Erste war, gemeinsam Baschar al-Assad zu stürzen. Dieses Ziel kann sich jetzt ändern, weil er sich mit Putin versöhnt hat. Das Zweite ist, eine große islamische Macht zu schaffen, und das Dritte, mit dem IS sozialistische und westliche Werte im Mittleren Osten zu verhindern – damit meine ich die Kurden. Sie wollen keine westlichen Werte im Mittleren Osten. Diese gemeinsamen Interessen haben dazu geführt, dass die türkische Bevölkerung immer wieder mit dem IS sympathisiert hat. Diese Sympathie hat bis zum Angriff auf den Flughafen Atatürk dazu geführt, dass es kaum effektiven Widerstand gegen den IS gegeben hat.
Wie schätzen Sie die Demonstrationen der Erdogan-Anhänger in Österreich nach dem Putschversuch im Juli letzten Jahres ein?
Sie machen die Demonstrationen unter dem Deckmantel „gegen Terror“ oder „für die Demokratie“. Aber Ziel ist es primär, Erdogans Politik in Europa sichtbar zu machen, weil Erdogan ein sehr schlechtes Image in Europa hat. Mit diesen Demos will man Politiker und auch die europäische Bevölkerung mundtot machen und einschüchtern, sodass sich niemand traut, etwas gegen Erdogan zu sagen. Das finde ich problematisch. Da wird gegen „Terrorismus“ demonstriert, aber es marschieren Leute mit, die mit einem Pullover der Muslimbruderschaft auf der Demo sind (zeigt auf Fotos). Sie werden nicht als Terroristen bezeichnet, aber all jene, die über den Friedensprozess und über Menschenrechte reden, werden als Terroristinnen und Terroristen plakatiert. Dieses Verständnis muss man durchbrechen.
Wie wirken sich diese Ereignisse Ihrer Meinung nach auf das Zusammenleben mit Österreichern aus?
Selbst Friedensrechtsaktivisten sagen, sie bekommen Angst, wenn Leute von der Muslimbruderschaft durch Wiens Straßen laufen oder Menschen, die „Allahu ekber“ rufen und Geschäfte von kurdischstämmigen oder alevitischstämmigen Unternehmern angreifen. Man sollte sich überlegen, diese Demos nicht mehr zu genehmigen, um weitere Provokationen zu verhindern. Hier muss die Politik Verantwortung übernehmen. Wenn diese Demos weiter stattfinden können, werden sich die Veranstalter schlicht von diesen „Einzelpersonen“ distanzieren. Sie sind sogar zu feige, die Verantwortung für die Täter und die Tat zu übernehmen. Wir dürfen es nicht zulassen, dass den Menschen mit Migrationshintergrund ihr Zugehörigkeitsgefühl weggenommen wird, nur weil ein Machtpolitiker seine Position stärken will.
Wie schätzen Sie zukünftige Migrationsbewegungen von Türken nach Österreich und in die EU ein?
Menschen, die sich in der Türkei unter Druck gesetzt fühlen – intellektuelle Kurden, intellektuelle Türken, christliche Minderheiten –, werden die Türkei langsam verlassen. Aber ihr Ziel wird nicht Österreich sein, weil sie wissen, dass hier und auch in Deutschland sehr viele AKP-Anhänger leben. Die intellektuelle Schicht, die qualifizierte Schicht, wird es nach Skandinavien ziehen.
Berivan Aslan ist seit 2013 Abgeordnete zum Nationalrat für die Grünen sowie Vorstandsmitglied des "Netzwerk Geschlechterforschung" und der Grünen Bildungswerkstatt Tirol. Sie spezialisierte sich auf Menschen- und Frauenrechte sowie Migrationsfragen und war zuvor im Unabhängigen Verwaltungssenat in Tirol tätig.