07 Sozialstaat

„Für wohlhabende Aufnahmestaaten, die früh in Integration investieren und hier erfolgreich sind, können langfristig mehr Vorteile durch Migration entstehen als Kosten.“

Interview mit Demetrios G. Papademetriou

Demetrios G. Papademetriou betont, dass die absoluten Notwendigkeiten für das künftige Funktionieren des Wohlfahrtsstaats ein solider Arbeitsmarkt und eine niedrige Arbeitslosenrate sind. Er hebt hervor, dass Migration sowohl eine Herausforderung als auch eine Chance für den Wohlfahrtsstaat ist, und zwar dann, wenn das Aufnahmeland seine Erwartungen deutlich formuliert und konsequent einfordert.  

Ist der Wohlfahrtsstaat, wie er etwa in Österreich, Deutschland und Skandinavien seit Jahrzehnten etabliert ist, noch zeitgemäß, leistbar und auf Dauer aufrechtzuerhalten?

Das sind ganz unterschiedliche Fragestellungen. Der starke politische Wille und die Verpflichtung zu einem Wohlfahrtsstaat für alle, wie es ihn in diesen sowie den meisten europäischen Staaten gibt, war der Grundstein für den sogenannten Gesellschaftsvertrag, auf den sich die Länder im Nachkriegseuropa gegründet haben. Die Aufgabe der Sozialpartner ist es, diesen Gesellschaftsvertrag aufrechtzuerhalten, weil er der europäischen Sozialdemokratie zugrunde liegt. Die viel schwierigere Frage ist aber, ob sich die Staaten die heutigen Sozialhilfeleistungen auch in zehn oder 20 Jahren leisten werden können – und zwar ohne beträchtliche Änderungen bei der Finanzierung oder bei den Leistungen, die gewährt werden.

Und können sie sich das leisten? Was sind denn die Voraussetzungen dafür, dass der Wohlfahrtsstaat auch in zehn und 20 Jahren noch funktioniert?

Die Voraussetzungen sind allgemein bekannt, aber dennoch ist es nicht immer einfach, sie auch zu erfüllen. In erster Linie ist es notwendig, dass jeder seinen Beitrag leistet – daher sind ein solider Arbeitsmarkt und eine niedrige Arbeitslosenrate absolute Notwendigkeiten, während der Feind jedes Wohlfahrtsstaats die Schattenwirtschaft ist. Auch die Verpflichtung, lebenslanges Lernen und Ausbildung zu ermöglichen – und zwar vonseiten des Staats ebenso wie vonseiten der Arbeitgeber –, ist ein Schlüsselelement. Zudem wäre ein späteres Pensionsantrittsalter erforderlich, als Anpassung an die höhere Lebenserwartung – was politisch allerdings äußerst schwierig durchzusetzen ist. Arbeitgeber müssten durch Produktivitätssteigerung weiterhin wettbewerbsfähig bleiben und dafür braucht es natürlich eine konstante Zahl an Arbeitskräften, von denen viele zweifelsohne aus dem Ausland kommen werden.

Welche demografischen, soziologischen, psychologischen Argumente sprechen grundsätzlich für einen Wohlfahrtsstaat? Warum brauchen wir ihn?

Der Wohlfahrtsstaat ist der Kitt, der die europäischen Sozialdemokratien zusammenhält. Wie das bei allen Verträgen so ist, wissen die Bürgerinnen und Bürger, dass der Staat sich zu ihrem Schutz verpflichtet hat – und zwar indem er notwendige und – noch wichtiger – auch erwartete Leistungen zur Verfügung stellt. Auf der anderen Seite weiß auch der Staat, dass die Vertragsbedingungen nur nach einer Befragung seiner Bürger geändert werden können. Die Bürger erwarten sich beispielsweise, dass der Staat günstigen Wohnraum, gratis Bildung, unterschiedliche Arten von Gesundheits- und Sozialversicherungen am und außerhalb des Arbeitsplatzes sowie Kurse zum (Wieder-)Einstieg in den Arbeitsmarkt zur Verfügung stellt. Zudem erwarten sie sich, dass es eine umfassende Arbeitslosenunterstützung – auch für Langzeitarbeitslose – ebenso gibt wie großzügigen Urlaubsanspruch, um den man in Europa im Übrigen vom Rest der Welt beneidet wird. Und eine stabile Altersversorgung, die einen zumindestwürdigen, in vielen Fällen sogar äußerst komfortablen Lebensabend ermöglicht. Durch diese Palette an staatlichen Leistungen stehen dem Arbeitsmarkt gesunde und „produktive“, motivierte Arbeitskräfte zur Verfügung, die notwendig sind, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Das „Problem“ dabei ist jedoch, dass die europäischen Gesellschaften immer älter werden – und da seit mehr als einer Generation die Geburtenrate deutlich unter der Reproduktionsrate liegt, gibt es immer weniger Arbeitskräfte. Dadurch gibt es natürlich auch immer weniger Steuerzahler, die für die Erhaltung des Wohlfahrtsstaats notwendig wären. Selbstverständlich gibt es diese Probleme nicht in allen europäischen Staaten: In Österreich und Deutschland ist die Situation viel gravierender als in Skandinavien. Speziell in Schweden und Norwegen liegt die Geburtenrate ein wenig über zwei, also sehr nah an der Reproduktionsrate.

Welche Erwartungen hat die Bevölkerung an einen Wohlfahrtsstaat? Haben sich diese Erwartungen in den letzten Jahren geändert?

Die Erwartungen sind eigentlich ganz klar: Die Bürgerinnen und Bürger gehen davon aus, dass die Leistungen und der Schutz erhalten bleiben. Punkt. Angesichts der explodierenden Kosten aufgrund der höheren Lebenserwartung und des steigenden Zustroms von Flüchtlingen und Migranten lautet die politische Frage jedoch, ob und wie der Staat sein Versprechen gegenüber der Bevölkerung halten und diese Leistungen auch weiterhin zur Verfügung stellen kann.

Weil Sie die Migration erwähnt haben. Welche Herausforderung stellt sie für den Wohlfahrtsstaat dar?

Migration ist sowohl eine Chance als auch eine Herausforderung für den Wohlfahrtsstaat. Es kommt stark auf die politische Herangehensweise an. In erster Linie hängt viel von der Zusammensetzung der Migrationsströme ab: Kommen viele Schlüsselarbeitskräfte, die von den Arbeitgebern „eingeladen“ wurden, weil ihre Fähigkeiten auf dem heimischen Arbeitsmarkt fehlen und sie hier eine Lücke füllen können? Wenn das der Fall ist, dann kann Migration eine große Chance für den Wohlfahrtsstaat sein. Kommen mehrheitlich junge Migranten, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass sie die Sprache schneller lernen, eine Ausbildung abschließen und die soziokulturellen und wirtschaftlichen Werte der Aufnahmegesellschaft rasch annehmen und verinnerlichen. Somit können sie im Sinne der Wohlfahrtsstaaten schnell zu „vollwertigen“ Beitragszahlern werden. Ganz anders gelagert ist die Situation jedoch, je spontaner die Migrations- und Fluchtbewegungen sind, wie es in den letzten Jahren der Fall war. Dann wird Migration schnell zur Glückssache, wo die Herausforderungen die Chancen bei Weitem überwiegen, zumindest eine Zeit lang. Und die Kosten für die Beibehaltung des Wohlfahrtsstaats sind oftmals die Ursache von Problemen und Herausforderungen. Längerfristig kann aber auch eine nicht kontrollierte Migration, etwa durch Familienzusammenführung oder spontane Fluchtbewegungen, eine Chance sein. Dann nämlich, wenn Integration gelingt und die neu Ankommenden die Werte der Aufnahmegesellschaft respektieren, rasch Arbeit finden und so selbst einen Beitrag zum Wohlfahrtsstaat leisten. Für wohlhabende Aufnahmestaaten, die früh genug erheblich in gelungene Integration investieren und hier erfolgreich sind, können zumindest langfristig gesehen mehr Vorteile und Chancen durch Migration entstehen als Kosten.

Unterscheiden sich eigentlich die Erwartungen von Migranten an den Wohlfahrtsstaat von jenen der Mehrheitsbevölkerung? Zum Beispiel in Österreich?

Das hängt voll und ganz von der Zusammensetzung der Migranten, ihrer Anzahl und den Umständen ihrer Einreise ab. Und vom Erfolg der Integrationsbemühungen – insbesondere davon, wie deutlich die Mehrheitsgesellschaft ihre Erwartungen an die Einwanderer artikuliert und wie sehr sie gewillt ist, ihre eigenen Regeln und Gesetze in Sachen Sozialleistungen durchzusetzen. Es ist sehr gut möglich, dass manche Migranten gar nicht so genau wissen, welche konkreten Sozialleistungen sie in einem bestimmten Land erwarten. Vor allem bei der spontanen Migration dürfte das der Fall sein – wenn Menschen also ohne nennenswerte familiäre Kontakte oder andere Netzwerke auswandern. Die meisten Migranten aber sind viel besser über die Sozialleistungen eines Landes informiert, als Aktivisten oft behaupten. In diesen Fällen sind der Reichtum eines Landes, die dortigen Berufsaussichten sowie der Zugang zu den Sozialleistungen sehr wohl ausschlaggebende Kriterien für den Zuzug in diesen Staat. Das liegt in der menschlichen Natur. Die Schlüsselfragen in diesem Szenario sind also: Wie deutlich formuliert das Aufnahmeland seine Erwartungen an die Einwanderer? Und wie konsequent fordert es die Einhaltung der Spielregeln seitens der Migranten ein? Die Erwartungen klar zu machen und gleichzeitig strikt, aber fair auf die Einhaltung gewisser Regeln zu pochen, ist in diesem Zusammenhang die ganz große Herausforderung.

Was halten Sie von dem Vorschlag, wonach Migranten erst dann dieselben Ansprüche wie die Mehrheitsbevölkerung auf Sozialleistungen haben, wenn sie einige Jahre in diesem Wohlfahrtsstaat gelebt und darin eingezahlt haben?

Das kommt auf die Art der Migration und auf die – sowohl nationalen als auch EU-weiten – Gesetze an, die für die einzelnen Einwanderer gelten. EU-Ausländer beispielsweise haben jede Menge Rechte, gleichzeitig aber darf das Aufnahmeland entscheiden, ab wann und unter welchen Umständen sie Zugang zu speziellen Sozialleistungen bekommen. So gesehen ist jede Art von „Sozialleistungen-Shopping“ nicht nur die Folge einer Boshaftigkeit der Einwanderer, sondern im selben Ausmaß auch die Folge einer Inkonsequenz des Aufnahmelandes, die Einhaltung klar definierter Gesetze einzufordern. Konkrete und vernünftige Bedingungen für die Inanspruchnahme sämtlicher möglicher Sozialleistungen zu schaffen, sollte also kein unlösbares Problem sein – solange sie den Gesetzen entsprechen und den Einwanderern deutlich vermittelt werden. Denn am Ende des Tages trägt eine Regierung die Hauptverantwortung für ihre eigene Bevölkerung – selbstverständlich im Rahmen der geltenden Gesetze.

Blicken wir in die Zukunft. In welche Richtung wird sich der Wohlfahrtsstaat in Europa entwickeln? Welche denkbaren Szenarien gibt es?

Die Beiträge der arbeitenden Bevölkerung werden höher ausfallen. Jene, die in das System einwandern, werden ebenfalls so schnell wie möglich Beiträge zahlen. Zudem müssen mehr Kredite aufgenommen werden, um das System aufrechtzuerhalten. Was das Eintreiben der Beiträge angeht, wird es zu einem Umdenken kommen – vor allem beim Pensionssystem, wo neue Finanzierungsmodelle angedacht werden müssen. Die Menschen werden länger arbeiten und später in Pension gehen. Um die steigenden Sozialleistungen leistbar zu halten, werden neue Wege beschritten, etwa durch private Versicherungen, aber auch – zumindest langfristig – durch Anpassungen bzw. Kürzungen von Sozialleistungen. Das sind alles sehr schwierige Entscheidungen, die die Länder so lange wie möglich hinauszögern wollen. Aber sie immer weiter hinauszuzögern wird die Situation nur verschlimmern, sodass die Bevölkerung später noch höhere Beiträge zahlen muss, die Sozialleistungen noch stärker gekürzt werden müssen und die Staaten noch mehr Schulden aufnehmen werden. Letzteres geht für viele europäische Länder mit enormen Gefahren einher, was das Verhältnis der Staatsschulden zum Bruttoinlandsprodukt angeht. 

Fallen Ihnen Best-Practice-Beispiele für Wohlfahrtsstaaten ein, die mit den Herausforderungen der Gegenwart oder Vergangenheit besonders gut umgehen?

Ich glaube nicht, dass es solche Beispiele gibt. Nichtsdestotrotz haben einige Länder wichtige Schritte gesetzt, um die besagten schmerzhaften Entscheidungen hinauszuzögern. Deutschlands Reformen etwa Mitte der 2000er-Jahre, die sogenannten Hartz-Reformen. Oder Schwedens Reformen auf dem Bankensektor Anfang der 1990er-Jahre. Oder auf dem Gesundheitssektor durch die Einführung von Selbstbehalten. Initiativen, die von vielen europäischen Ländern übernommen wurden, die dadurch beispielsweise das Pensionsantrittsalter erhöht oder Migranten Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht haben. Die schlechte Nachricht ist aber, dass noch viel mehr Maßnahmen notwendig sind – inklusive unterschiedlicher Anpassungen von Sozialleistungen, besonders im Pensionssystem. Die große Herausforderung für die Regierungen besteht darin, diese Maßnahmen umzusetzen, ohne den Wohlfahrtsstaat auszuhebeln und soziale Unruhen zu verursachen, im Zuge dessen werden gewisse Strömungen versuchen, manchen Gruppen wie etwa Migranten den Zugang zum Wohlfahrtsstaat zu erschweren oder ganz zu verweigern. Ohne also das Gerüst zum Einsturz zu bringen, auf dem die soziale europäische Demokratie aufgebaut wurde.

Was halten Sie von der Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen?

In wirklich sehr reichen Kleinstaaten, in denen die Rechte und Pflichten eindeutig geklärt sind und auch eingehalten werden, mag ein bedingungsloses Grundeinkommen die richtige Entscheidung sein. Für Staaten und Regierungen aber, die in der wirklichen Welt leben und ständig mit komplexeren Problemen konfrontiert sind, ist es nicht gerade nachhaltig und weitsichtig, dass die meisten Anreize in eine falsche Richtung gehen. Und die menschliche Natur schlichtweg ignorieren. Solche Konzepte – wie vieles von dem, was ich schon gesagt habe – müssen in einem Kontext der wirklichen Welt verstanden werden, in dem Entscheidungen von Individuen – egal ob Politiker oder nicht – getroffen werden, die in erster Linie auf ihre eigenen Interessen Rücksicht nehmen und nicht auf jene der breiten Bevölkerung. Abgesehen davon: Die Konkurrenz durch Produkte und Dienstleistungen aus dem Ausland, hergestellt bzw. angeboten von viel härter arbeitenden Menschen mit einem enormen Hunger auf einen schnellstmöglichen sozialen Aufstieg, stellt mittelfristig die größte Herausforderung für die Wohlfahrtsstaaten in Europa dar.

Demetrios G. Papademetriou ist Mitbegründer und ehemaliger Präsident des Migration Policy Institute, einem der weltweit anerkanntesten Thinktanks, der sich mit Migration und Flüchtlingspolitik befasst. Der in Washington ansässige Thinktank hat zudem einen Sitz in Brüssel. Demetrios G. Papademetriou ist Mitbegründer des „Metropolis: An International Forum for Research and Policy on Migration and Cities“ und Autor von „Rebuilding after Crisis: Embedding Refugee Integration in Migration Management Systems“ und „Rethinking Emigration: Turning Challenges into Opportunities (Transatlantic Council Statement)“.

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