05 Gewalt gegen Frauen

„Gleichberechtigung muss eine Selbstverständlichkeit in jedem Bereich unseres Lebens werden.“

Interview mit Emina Saric

Emina Saric betont, dass Gleichberechtigung eine Selbstverständlichkeit in jedem Bereich des Lebens werden muss. Zwangsheirat ist nicht durch Herkunft, Kultur, Bräuche, Religion oder „Ehre“ zu rechtfertigen, sondern muss als eindeutige Gewalt an Frauen betrachtet und als Strafdelikt eingestuft werden.

Welche Formen von Gewalt gegen Frauen gibt es?

Es gibt unterschiedliche Formen von Gewalt gegen Mädchen und Frauen – physische, psychische, sexuelle und strukturelle. Die Frauenspezifische Beratungsstelle Divan betreut vorwiegend Frauen und Mädchen, die von Gewalt im Namen der „Ehre“ betroffen sind, also Zwangsheirat bzw. Gewalt an Frauen, die aufgrund kollektivistischer Vorstellungen entsteht.

Inwiefern unterscheidet sich in diesem Zusammenhang personelle Gewalt, also von einem handelnden Täter ausgehend, von struktureller Gewalt – also Gewalt, die in ein Gesellschaftssystem eingebaut ist?

Diese Frage ist sehr komplex, denn bei der spezifischen Form der „Gewalt im Namen der Ehre“ wird der Einzelne, vorwiegend männlich, durch kollektivistische Vorstellungen der patriarchalen Macht dazu „gezwungen“, Gewalt anzuwenden, um die „Ehre“ der Familie wiederherzustellen. Hier kommt

eine starke Überschneidung dieser zwei Begriffe, denn strukturelle Gewalt basiert auf Strukturen einer Gesellschaft oder Gruppe und ihrer Machtverhältnisse. Sie muss nicht unbedingt wahrgenommen werden, da sie bereits internalisiert ist – beispielsweise in der Community. Daher kann man diese zwei Begriffe in diesem Zusammenhang nicht ganz trennen.

Wo bzw. wie erleben Frauen in Europa am häufigsten Gewalt? Zu Hause? Am Arbeitsplatz? Von ihrem Partner, ihren Eltern, ihren Vorgesetzten?

Laut Statistiken gibt es die höchsten Gewaltraten in Dänemark mit 52 Prozent, Finnland mit 47 Prozent und Schweden mit 46 Prozent. Deutschland liegt laut Studie leicht über dem EU-Schnitt mit 35 Prozent, was die Erfahrung der Frauen mit sexueller und/oder physischer Gewalt angeht. In Europa berichten viele Frauen von psychischer Gewalt oder sexueller Belästigung im Internet, die verschiedene Krankheitsbilder verursacht wie etwa Depressionen, Angstzustände, Panikattacken usw. Hier ist es wichtig, solche Formen zu erkennen, denn viele Frauen sind sich solcher Formen der Gewalt gar nicht bewusst. Frauen und Mädchen, die von Gewalt im Namen der „Ehre“ betroffen sind, erleben vor allem Gewalt durch ihre Partner, Eltern, Familien bzw. im weiteren Sinne durch die Community.

Welche Frauen sind besonders gefährdet?

Die Erfahrungen bzw. Statistiken der Frauenberatungsstelle Divan zeigen, dass junge Frauen mit Migrationshintergrund – durch die fehlende strukturelle Unterstützung – und arme Frauen – mit und ohne Migrationshintergrund – bzw. Frauen aus bildungsfernen Schichten am meisten betroffen sind. Betroffene müssen länger in einer Gewaltbeziehung ausharren, wenn eine eigenständige Existenz und Aufenthaltsabsicherung nicht gegeben ist. 

Welche Maßnahmen kann die Politik gegen Gewalt an Frauen ergreifen?

Der Paradigmenwechsel der 90er-Jahre, wonach Gewalt an Frauen kein privates Problem mehr ist, muss weiterhin von der Politik konsequent verfolgt werden – ganz im Sinne der „Istanbul-Konvention“, die die Europaratsstaaten verpflichtet, gegen Gewalt an Frauen aufzutreten. Frauen müssen als gesellschaftliche Ressourcen gesehen werden. Wenn wir die Bildungsrate der Geschlechter anschauen, sehen wir, dass es in diesem Bereich zu einem Ausgleich kommt. Frauen haben in einigen Bildungssparten Männer eingeholt bzw. schon übertroffen. Diese Tatsachen weisen auf enorme Potenziale hin, die im wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Bereich genutzt werden können. Man muss aufhören, das Konkurrenzdenken zwischen den Geschlechtern zu pflegen und selbstbewussten Frauen Stolpersteine in den Weg zu legen. Die Gleichberechtigung muss eine Selbstverständlichkeit in jedem Bereich unseres Lebens werden. Im Konkreten bedeutet das, wenn Frauen als Alleinerzieherinnen oder Single-Frauen leben möchten, muss es in einer Gesellschaft auch materiell möglich sein. Viele Frauen, so habe ich den Eindruck, zahlen für ihre gelebte Freiheit oder ihren Wunsch, Karriere und Familie unter einen Hut zu bringen, einen hohen Preis. Denn die Tatsache, dass sich Frauen ihre Rechte nehmen und sie wahrhaftig leben, wird von unserer Gesellschaft noch nicht „honoriert“.

Was kann die Gesellschaft bzw. jeder einzelne von uns in diesem Zusammenhang machen?

Die Gesellschaft muss generell Gewalt als ein ernsthaftes Phänomen betrachten und in jedem Segment Gewalt erkennen und aufdecken. Das gilt für Kindergärten und Schulen ebenso wie für Organisationen. Also: Aufklären, thematisieren und Maßnahmen gegen alle Formen der Gewalt setzen.

Ist es immer noch ein Tabu, über Gewalt gegen Frauen zu sprechen?

Je aufgeklärter eine Gesellschaft ist und agiert, desto mehr Wahrnehmung und Widerstand gibt es gegen Gewalt an Frauen. Ich persönlich habe den Eindruck, dass Gewalt an Frauen noch immer ein Tabuthema ist – sowohl in Europa als auch in anderen Gegenden. Aber viel ausgeprägter und sichtbarer wird sie in kollektivistischen Gesellschaften, da Frauen Gewalt als ihre eigene Schuld sehen. In ländlichen Gebieten am Balkan heißt es beispielsweise noch immer: „Mein Mann hat eh Recht, wenn er mich schlägt, da ich es verdient habe. Ich habe ihm widersprochen.“

Gibt es in europäischen Ländern genug niederschwellige Anlaufstellen für Frauen, die von Gewalt betroffen sind?

Ich kann von Österreich sprechen, wo das Angebot wirklich sehr groß ist. Aufgabe der Politik ist es aber, diese Beratungsstellen, Frauenhäuser etc. langfristig abzusichern.

Welche Versäumnisse gab es in der Vergangenheit? Wurde Gewalt gegen Frauen bisher generell unterschätzt?

Gewalt an Frauen wurde meiner Meinung nach in der Vergangenheit gesellschaftlich nicht breit thematisiert und durchaus durch patriarchale Denkmuster tabuisiert. Es herrschte ein allgemeiner Irrtum, dass Gewalt immer dem bzw. der anderen passiert. Somit wurde Gewalt gegen Frauen an den Rand der Gesellschaft geschoben und damit stigmatisiert und unter den Teppich gekehrt. Erst durch Thematisierung und Gewaltschutzgesetze wurde das Thema ins Zentrum gerückt und somit ernsthaft behandelt – unter anderem ein großer Verdienst der Frauenbewegung.

Wollen Sie eine Prognose wagen? Wie wird das weitergehen mit der Gewalt gegen Frauen?

Ich kann keine Prognosen erstellen. Allerdings möchte ich sagen, dass wir uns mit Gewalt in allen Bereichen auseinandersetzten müssen. Vor allem sollten wir auf die Sprache achten, denn die Sprache schafft Wirklichkeit. Die Sprache und der Umgang miteinander sind die ersten Symptome, die uns zeigen können, wie gewalttätig unsere Kommunikation ist. 

Weltweit ist die Genitalverstümmelung von Mädchen immer noch weit verbreitet, in Teilen Afrikas oder Indonesiens beispielsweise. Welche Maßnahmen kann die westliche Welt, die Vereinten Nationen etwa, setzen, um dieser Grausamkeit Einhalt zu gebieten?

Die westliche Welt arbeitet schon längst gegen diese grausamen Praktika. Aus meiner Sicht ist die beste Formel, mit Aufklärung der Frauen ihr Selbstbewusstsein zu stärken und ihnen eine materiell unabhängige Lebensform zu ermöglichen.

Was halten Sie von der Forderung, dass die Genitalverstümmelung nicht nur in einigen Ländern, sondern überall als eigenes Delikt gelten soll?

In einigen europäischen Ländern bestehen Spezialgesetze – Belgien, Dänemark, Großbritannien, Italien, Norwegen, Österreich, Schweden und Spanien –, die FGM, also „female genital mutilation“, explizit unter Strafe stellen. In anderen europäischen Ländern wird sie als Tatbestand der Körperverletzung geahndet. In den meisten Staaten wird die Meinung vertreten, dass die Körperverletzungstatbestände der nationalen Strafgesetze ausreichen und keine andere Regelung gegen FGM notwendig sei. Das Problem wurde als Phänomen der Migration eingestuft und politisch sah man da keinen Handlungsbedarf. Es ist aus meiner Sicht ein klarer Fall von Menschenrechtsverletzung und als Gewalt gegen Mädchen und Frauen zu sehen.

Gibt es eigentlich auch Fälle von Genitalverstümmelung in Europa?

Ja, infolge von Zuwanderung aus Gebieten, in denen FGM praktiziert wird, tritt Genitalverstümmelung auch in Europa auf.

Zwangsehen und das Verheiraten von Minderjährigen haben in Europa zuletzt wieder zugenommen. Auch durch die Flüchtlingsbewegung, weil Menschen aus Kulturkreisen nach Europa gekommen sind, in denen Zwangs- und Kinderehen üblich sind. Aber natürlich nicht nur. Dieses Phänomen kommt beispielsweise auch in der türkischen und bosnischen Kultur vor. Was können die hiesigen Regierungen bzw. die Gesellschaften dagegen tun?

Das Phänomen Zwangsheirat ist nicht durch Kultur, Herkunft, Bräuche, „Ehre“ oder Religion zu rechtfertigen, sondern es muss als eindeutige Gewalt an Mädchen und Frauen betrachtet und somit als Strafdelikt eingestuft werden. Seit 2016 gibt es in Österreich im Strafgesetzbuch den Paragrafen 106a, der für Zwangsheirat sechs Monate bis fünf Jahre Gefängnis vorsieht. Die hiesigen Gesellschaften und die politischen Vertreterinnen sollen auf solche Phänomene inhaltlich vorbereitet sein, eine klare Haltung schärfen und dementsprechend gesetzlich vorgehen.

Welche Möglichkeiten haben junge Mädchen, die vor einer Zwangsverheiratung stehen, sich dagegen zu wehren und aus ihren Familien auszubrechen? Gibt es für diese Mädchen genug Unterstützung vonseiten der Behörden?

Junge Mädchen können sich diesbezüglich informieren, etwa bei der Beratungsstelle Orient Express Wien und der Frauenberatungsstelle Divan in Graz, und sich vertraulich und kostenlos beraten lassen. Das wäre der erste Schritt. Die nächsten Schritte folgen je nach Situation bzw. betroffenen Personen. Das hängt oft von vielen Faktoren ab. Zum Beispiel davon, ob die Betroffene minderjährig oder volljährig ist. Falls Minderjährige betroffen sind, muss die Jugendwohlfahrt involviert sein. Es gibt bereits Notwohnungen für Frauen, der Ausbau der Plätze, auch in den Bundesländern, wäre empfehlenswert. Obwohl Österreich ein sehr gutes Gewaltschutzgesetz hat und den bzw. die Täter für gewöhnlich wegweist, müssen im Falle einer drohenden Zwangsheirat die Opfer zumeist den Bruch mit der Herkunftsfamilie machen, um ihr Leben zu schützen. Polizei, Behörden, Justiz und Beratungsstellen müssen an einem Strang ziehen, um diesen Mädchen helfen zu können.

Emina Saric ist Projektleiterin des Projekts „HEROES – Gegen Unterdrückung im Namen der Ehre“ in der Steiermark. HEROES arbeitet präventiv mit jungen Männern aus sogenannten Ehrenkulturen, die sich für ein gleichberechtigtes Zusammenleben von Frauen und Männern einsetzen. Ziel ist ein partnerschaftliches und gewaltfreies Geschlechter- und Generationenverhältnis auf Basis der Menschenrechte. Zusätzlich unterrichtet sie im Ausbildungszentrum für Sozialberufe in Graz. Zuvor war sie als Beraterin bei der Frauenspezifischen Beratungsstelle für Migrantinnen – DIVAN tätig.

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