10 Heimat und Identität

"Heimat ist der Ort, an dem ich mich wohl- und angenommen fühle, gerne lebe und den ich mitgestalten kann."

Interview mit Herwig Hösele

Herwig Hösele akzentuiert, dass Sprachkenntnisse und der Respekt vor den Grundwerten des liberalen Rechtsstaates, der Demokratie und der unteilbaren Menschenrechte die Basisvoraussetzungen für die Integration von Zuwanderern sind. Zudem müssen auch der Wille und die Bereitschaft vorhanden sein, sich aktiv in die Aufnahmegesellschaft einzubringen.

Was bedeutet Heimat für Sie?

Heimat ist der Ort, an dem ich mich wohl- und angenommen fühle, gerne lebe und den ich mitgestalten kann. Insofern ist Heimat nicht herkunftsgebunden – wenngleich der Ort, in dem man seine Jugend verbracht hat bzw. wo die Familie verwurzelt ist, oft jener Ort bleibt, den man am leichtesten und ehesten als Heimat empfindet. 

Warum ist dieser Begriff derzeit so präsent?

Das hängt sicher mit der Globalisierung und allgemeinen Unsicherheit zusammen. Der Mensch wünscht sich und braucht für ein gelingendes Zusammenleben Orientierung, Verwurzelung, Vertrautheit und Sicherheit.

Apropos Globalisierung: Gewinnt Heimat in Zeiten von Globalisierung und vor allem Migration an Bedeutung?

Der Wunsch und das Gefühl, in einem überschaubaren Raum geborgen sein zu können, gewinnt angesichts der unübersichtlicher werdenden Welt und der immer rasanteren Veränderungen und disruptiven Entwicklungen ganz sicher an Bedeutung – ob man das nun Heimat nennen will oder nicht.

Ist es Ihrer Meinung nach möglich, dass eine neue Heimat eine alte ersetzen kann?

Das ist sicher nicht einfach. Im Idealfall gewinnt man eine neue Heimat, ohne die alte zu vergessen oder zu verlieren. Das ist in den ersten Jahrzehnten nach 1945 in Österreich in hohem Maße gelungen, wobei es für Menschen, die deutschsprachig waren, aber durch die Folgen des zerstörerischen Zweiten Weltkriegs aus ihren angestammten Siedlungsgebieten vertrieben wurden, viel einfacher war. Auch für Migranten aus christlich geprägten ost- und mitteleuropäischen Ländern, aber auch aus säkularen Staaten Asiens ist es noch leichter als für jene, die zum Beispiel aus Afghanistan, Anatolien oder Tschetschenien kommen. Ziel muss es jedenfalls sein, dass sich die Migranten an jenem Ort, an dem sie jetzt leben, bestmöglich integrieren können und sich nicht als Fremde in der neuen Heimat fühlen müssen. Freilich wird es immer Wanderer zwischen zwei und mehreren Welten und eine nomadische Lebensweise geben.

Eine Frage noch zu Globalisierung und Migration. Beobachten Sie als Folge dieser Entwicklungen eine Sorge vor Heimatverlust?

Ja, weil vielfach die Sorge besteht, dass der überschaute Lebensraum durch diese Entwicklungen gestört oder gar zerstört wird. Angst ist aber ein schlechter Ratgeber, es ist die Aufgabe verantwortungsbewusster Politik, bei allem Problembewusstsein Zukunftsvertrauen zu vermitteln. 

Dieses Zukunftsvertrauen wird in Zusammenhang mit Zugehörigkeit, Identifikation und Heimat immer öfter erwähnt. Welchen Einfluss kann Heterogenität auf das Vertrauen in eine Gesellschaft haben? 

Vertrauen ist die Grundressource einer erfolgreichen und friedlichen Gesellschaft. Vertrauen in die politisch Verantwortlichen ist daher in einer Demokratie lebensnotwendig. Freilich, je heterogener eine Gesellschaft ist, umso größer können Berührungsängste und Misstrauen werden. Es ist deshalb notwendig, die realen Probleme zu benennen, über Diversität und Heterogenität aufzuklären, zu informieren und um Verständnis zu werben – aber mit einem positiven Zugang. Also nicht Ängste zu schüren und Bedrohungskulissen aufzubauen, sondern um Zukunftsvertrauen zu werben. Hier können zivilgesellschaftliche Beispiele im unmittelbaren Lebensumfeld die generelle Aufgabenstellung verantwortungsvoller Politik unterstützen.

Indem sie beispielsweise auf eine gemeinsame kulturelle Identität setzen? Gibt es so etwas überhaupt?

Identität ist ein komplexer Begriff und wird auch unterschiedlich definiert. Gemeinsame kulturelle Identität hat sicher etwas mit gemeinsamer Sprache und Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe, Religion, Ethnie, Region, einem Land, einer Nation zu tun. In Österreich, in weiten Teilen Europas und in dem Raum, den wir gemeinhin als den Westen bezeichnen – also auch die USA und andere amerikanische Staaten – sind bei aller Unterschiedlichkeit die Errungenschaften der Aufklärung das Wesenselement der Identität. Wunschvorstellung freilich wäre für mich die universelle Achtung der Menschenrechte, eingebettet in die jeweils regionale Eigenart. Es kann keine kulturelle Einheitsidentität geben, sondern nur Vielfalt in einem einheitlichen Verständnis nicht verhandelbarer Grundwerte, die eigentlich in allen Kulturkreisen respektiert und gelebt werden sollten.

Der Begriff der Identität wird ja in Debatten über Integration, Kultur und Gemeinschaft vor allem in jüngerer Vergangenheit ausgesprochen kontrovers diskutiert. Worauf führen Sie das zurück?

Weil es eben wie in allen Fragen der gesellschaftlichen Entwicklungen unterschiedliche Ansichten, Überzeugungen und Meinungen gibt. Das ist per se nichts Schlechtes, sondern kann im Gegenteil in respektvoll und tolerant geführten Debatten zu neuen, weiterführenden Erkenntnissen und Ergebnissen führen. Leider haben sich in den vergangenen Jahren auch ein teilweise besorgniserregender Ton und eine den fruchtbringenden Diskurs sehr behindernde Haltung eingeschlichen. Teilweise ist das auf Ängste und Besorgnisse zurückzuführen, die nicht ernst genug genommen wurden. Viele Österreicher hatten und haben das Gefühl, dass zu schnell zu viele Migranten kommen. Es wurde lange nicht die Frage gestellt, wie viele Migranten die österreichische Gesellschaft tatsächlich integrieren kann; ob es Migrantengruppen gibt, die besonderer Aufmerksamkeit bedürfen. Bei realen Problemen wurde immer wieder fahrlässig weggeschaut, verharmlost oder beschönigt, was wiederum fremdenfeindlichen Parolen und Tendenzen Auftrieb gab. Hier wurde zu lange radikalen Tendenzen sowohl in der autochthonen österreichischen Bevölkerung als auch bei gewissen Migrantengruppen Vorschub geleistet. Verhetzung und demokratiefeindlicher Fundamentalismus wurden dadurch gefördert. Es ist ein Verdienst vor allem der jüngeren Integrationspolitik ab 2011, dass die Problemstellungen erkannt und benannt werden und man sich um wirksame Initiativen bemüht – speziell auch im Bereich der Elementarpädagogik.

Die vielen Versäumnisse in der Integrationspolitik sind nicht von der Hand zu weisen. Aber auch die Einsicht, dass sich etwas ändern muss. Und dass Integrationspolitik ein neues Narrativ braucht. Wie könnte Ihrer Meinung nach ein gemeinsames Narrativ aussehen, mit dem sich alle Mitglieder einer Gesellschaft identifizieren können?

Ein gemeinsames Narrativ zu entwickeln, ist eine besonders schwierige Aufgabe in einer Zeit, in der religiöse Narrative wie die des Christentums unter Druck geraten und nationalistische Lösungsvorschläge populär geworden sind. Dabei hätte die Entwicklung in Europa nach 1945 das Zeug für ein attraktives Narrativ – nämlich dass friedliches Miteinander statt kriegerischer Feindschaft, liberale Demokratie und Achtung der Menschenrechte statt Diktatur und totalitärer Willkür zu Wohlstand und Stabilität für breiteste Bevölkerungsschichten führen; dass eigentlich jede und jeder Einzelne dazu beitragen müsste, dass diese Entwicklung auch in Zukunft weitergeführt werden kann und nicht aufs Spiel gesetzt wird. Dies ist ein übernationales Narrativ, lässt sich aber letztlich national auch für alle EU-Mitglieder und europäischen Rechtsstaaten erzählen. Europa und die europäischen Staaten nach 1945, das ist bei allen Problemen eine Erfolgsgeschichte. Ein solches Narrativ wird nur breitenwirksam, wenn die sogenannten Eliten, Opinion Leaders und Verantwortungsträger dieses ohne Ausblendung von Kritik und Selbstkritik überzeugt, überzeugend und offensiv vertreten.

Was eine gemeinsame Identität angeht – welche Bedeutung hat die Vergangenheit für sie? Und welche die Zukunft?

Die Vergangenheit hat bestimmt eine große Bedeutung – einerseits für das Selbstbewusstsein einer Nation oder Gruppe, aber auch des Individuums, andererseits auch für einen Lernprozess aus fatalen Fehlern. Und natürlich ist eine positive Zukunftsperspektive, die realistischen Optimismus zu vermitteln vermag, vielleicht noch entscheidender für eine gemeinsame Identität, die bei aller Pluralität und Diversität sich doch entlang des eben skizzierten Narrativs entwickeln sollte.

Hängen für Sie die Begriffe Heimat, Identität und Kultur untrennbar zusammen?

Da gibt es zweifellos einen untrennbaren Zusammenhang. Die kulturelle Vielfalt als eine Bereicherung erlebbar zu machen, das ist die große Kunst. Die Kultur spielt für Heimat und Identität eine wichtige Rolle. Wir sehen das in vielerlei Hinsicht – etwa auch im Liedgut und im Tanz. Diese reiche Vielfalt ist faszinierend, gibt einerseits dem Individuum und der Gruppe Halt, geht aber andererseits oft auch allen, die es erleben können, zu Herzen und kann das notwendige Verständnis fördern.

Sie haben vorhin die Bedeutung eines Zugehörigkeitsgefühls angesprochen. Wie kann man dieses Gefühl fördern?

Durch positive Integrationserlebnisse in allen Bereichen. Ein besonders breites und niedrigschwelliges Angebot zum Deutschlernen ist eine wesentliche Fördervoraussetzung. Ebenso die Bildungsangebote von der Elementarpädagogik bis zum tertiären Sektor. Es muss den Migranten auch Respekt entgegengebracht und Teilhabe ermöglicht werden. Dies ist nicht nur eine staatliche Aufgabe, es gibt hier wie gesagt auch erfreulicherweise sehr viele zivilgesellschaftliche Initiativen, die es zu ermutigen gilt. Besonders gelungene Beispiele der Integration sollten verstärkt präsentiert werden. Beruflich, sozial, sportlich, wissenschaftlich, künstlerisch erfolgreiche Personen gehören vor den Vorhang. Wenn das vorhin Genannte fehlt, dann sind das die behindernden Faktoren wie Ausgrenzung und herabwürdigende und spaltende Äußerungen.

Um noch konkreter zu werden: Wie viel Zugehörigkeit und Identifikation mit der Aufnahmegesellschaft bzw. ihrer Lebensweise, ihren Werten und ihrer Kultur ist für die Integration von Zuwanderern und Flüchtlingen unbedingt notwendig? 

Sprachkenntnisse und der Respekt vor den Grundwerten des liberalen Rechtsstaates, der Demokratie und der unteilbaren Menschenrechte – also der Hausordnung in Österreich und des demokratischen Europa – sind wohl die Basisvoraussetzungen. Beim selbstverständlichen Bekenntnis zur Religions- und Meinungsfreiheit muss auch klargestellt sein, dass diese Freiheiten nur innerhalb der staatlichen Rahmenbedingungen garantiert werden und nicht über diesen stehen können. Es muss auch der Wille und die Bereitschaft vorhanden sein, sich aktiv in die Aufnahmegesellschaft einzubringen – sei es auf dem Arbeitsmarkt, sei es im Vereinswesen oder in informellen Gruppen. So kann auch das solidarische Zusammenleben am besten gelingen.

Abgesehen von der Notwendigkeit von zivilgesellschaftlichen Initiativen und der Bringschuld von Migranten – was kann der Staat noch tun, um das Zugehörigkeitsgefühl von Migranten zu fördern?

Der Staat muss die entsprechenden Angebote dafür schaffen. Jeder einzelne Zuwanderer kann durch das Beispiel seines Bemühens in diesem Sinne das Bewusstsein dafür stärken. Auf mögliche Konflikte, die sich durch die Vielfalt von Identitäten ergeben können, sollte die Politik verantwortungsbewusst und mit einem prinzipiell positiven Zugang reagieren, ohne die Probleme zu leugnen. Es gilt aber, auch in der Aufnahmegesellschaft ein Klima zu schaffen, das im Fremden, was oder wer auch immer das ist, nicht primär eine Bedrohung sieht, sondern das zeigt, dass hier für Verständnis und auch für ein Aufeinanderzugehen geworben wird. Wie schon gesagt zählen die Sorgen vor einem Kontrollverlust, einer unkontrollierbaren Zuwanderung und einer nicht sanktionierten Missachtung der österreichischen Hausordnung zu den größten potenziellen Konfliktfeldern. Hier muss staatliches Handeln verständnisvoll, aber kompromisslos sicht- und spürbar werden. Nur so können Konflikte minimiert und Empathie sowie Grundvertrauen gestärkt werden.

Aus der Sicht von Zuwanderern noch eine Frage: Wie ist Ihrer Meinung nach zu erklären, dass sich Menschen mit einem Land und seiner Kultur bzw. Lebensweise nicht anfreunden können, obwohl sie seit Jahrzehnten in diesem Land leben?

Es ist ganz sicher die mangelnde Integration, das beginnt mit fehlenden Deutschkenntnissen. Für besonders verhängnisvoll halte ich, wenn Migrantengruppen unter sich bleiben, sich abkapseln und in Parallelgesellschaften leben. Andererseits darf die sogenannte autochthone Mehrheitsgesellschaft den Migranten nicht das Gefühl des Ausgegrenztseins geben. Jeder Migrant, jede Migrantin ist ein Mensch mit der gleichen Würde und den gleichen Rechten – sei er jetzt Asylberechtigter oder Arbeitskraft. Es muss allen das bewusst sein, was der bedeutende Schweizer Schriftsteller Max Frisch schon 1965 sagte: „Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen.“

Und warum, glauben Sie, identifizieren sich Menschen mit Ländern, Kulturen und Gepflogenheiten, die tausende Kilometer entfernt sind?

Weil es das Land ihrer Geburt ist, in dem sie aufgewachsen sind und oft auch Verwandte haben. Dagegen ist auch nichts einzuwenden, solange diese Identifikation vom Herkunftsland nicht politisch instrumentalisiert wird und sie nicht gegen die rechtsstaatliche demokratische Grundordnung verstößt.

Herwig Hösele ist Generalsekretär des Zukunftsfonds der Republik Österreich und Koordinator der Dialogreihe Geist & Gegenwart. Er ist Vorsitzender des Universitätsrates der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz. 2012 wurde er mit dem Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse ausgezeichnet.

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