02 Islam europäischer Prägung
Perspektiven Integration
„Ich habe oft das Gefühl, dass die extremen Gruppierungen den ganzen Diskurs bestimmen.“
Interview mit Zekirija Sejdini
Für Zekirija Sejdini ist bei der Bezeichnung Islam europäischer Prägung vor allem die Prägung der islamischen Theologie durch grundsätzliche Werte wie die Idee der Aufklärung, die allgemeine Menschenrechtserklärung sowie die Anerkennung der säkularen demokratischen Rechtstaatlichkeit von großer Bedeutung. Er hebt aber hervor, dass mit dieser Bezeichnung vieles in Verbindung gebracht werden kann und man damit daher sensibel umgehen sollte.
Außen- und Integrationsminister Sebastian Kurz unterstützt die Forderung nach einem „Islam europäischer Prägung“. Begrüßen Sie diese Forderung?
Als jemand, der sich seit Jahren für die Beheimatung der islamischen Theologie an europäischen Universitäten einsetzt, ist die europäische Prägung des Islam auch für mich ein wichtiges Anliegen. Ich glaube, dass die islamischen Zentren an den Universitäten diesbezüglich bereits gute Arbeit leisten. Dabei müssen wir aber darauf achten, dass dieser Begriff nicht inflationär verwendet wird und sich zum Kampfbegriff entwickelt. Diese Gefahr ist sehr hoch, wenn damit nicht sensibel umgegangen und der Begriff sehr plakativ verwendet wird.
Wie definieren Sie „Islam europäischer Prägung“ eigentlich?
Zunächst sei erwähnt, dass diese Bezeichnung nicht unproblematisch ist. Sie ist sehr ambivalent, sodass vieles damit in Verbindung gebracht werden kann. Unabhängig davon kann diese Bezeichnung meines Erachtens zweierlei bedeuten. Zunächst kann sie bedeuten, dass jede Religion bzw. Theologie den Kontext ihrer Adressaten berücksichtigen muss. Aus dieser Perspektive betrachtet, erscheint es sinnvoll, dass die islamische Theologie in Europa europäisch und in anderen Kulturkreisen anders geprägt ist bzw. sein muss. Denn wir haben hier in Europa eine andere „Realität“ als Menschen, die in anderen Ländern leben. Ein weiterer – und für mich wichtigerer – Aspekt ist in diesem Zusammenhang die Prägung der islamischen Theologie durch grundsätzliche Werte wie die Idee der Aufklärung, die allgemeine Menschenrechtserklärung und die Anerkennung der säkularen demokratischen Rechtsstaatlichkeit – was aber wiederum eine kulturalistische Vereinnahmung der Aufklärung, der allgemeinen Menschenrechte und die Trennung von Religion und Staat bedeuten würde.
Impliziert diese Bezeichnung nicht auch, dass der Islam an sich nicht europäisch und somit westlich praktikabel ist und einer Art „Reform“ bedarf?
Mehr als die Bezeichnung, die ja bekanntlich aus vielen Gründen problematisch ist, macht mir die weitverbreitete essentialistische Sichtweise Sorge, die von einem „Islam an sich“ bzw. von einem „Ur-Islam“ ausgeht. Dieser essentialistischen Sichtweise folgt die Annahme, „der Islam“ sei vom Wesen her mit den modernen westlichen Werten nicht vereinbar, was nicht nur falsch, sondern auch gefährlich ist. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass solche Gedanken sowohl von muslimischen Fundamentalisten als auch von Islamgegnern gleichermaßen geteilt werden. Aus diesem Grund müssen wir uns zunächst vom Gedanken eines „Ur-Islam“ verabschieden. Denn diesen gibt es nicht. Wenn wir über „den Islam“ reden, reden wir immer über eine bestimmte theologische Auslegung des Islam, die in einem bestimmten Kontext entstanden ist. Erst auf Grundlage dieser Tatsache kann eine sachliche und produktive Diskussion entstehen. Eine Reform im Sinne einer kontinuierlichen Erneuerung ist sowohl für den Islam als auch für die anderen Religionen erforderlich, nicht nur in Europa. Religiöse Auffassungen müssen stets im gegenwärtigen Kontext neuinterpretiert werden, wenn sie den einzelnen Menschen, aber auch die Gesellschaft positiv stimulieren wollen.
Halten Sie den Islam für eine europäische Religion?
Es kommt drauf an, was Sie unter einer europäischen Religion verstehen. Geographisch betrachtet ist keine der drei monotheistischen Religionen ursprünglich europäisch, weil sie im Nahen Osten entstanden sind. Wenn Sie jedoch fragen, ob der Islam mit den allgemeinen Menschenrechten und der Idee der Trennung von Staat und Religion kompatibel ist, kann ich das nur bejahen. Die Geschichte des Islam zeigt, dass die Muslime durchaus in der Lage gewesen sind, zu bestimmten Zeiten „europäischer“ zu sein als andere Religionen.
Wenn über Integration gesprochen wird, wird meistens auch über den Islam gesprochen, über andere Religionen hingegen kaum. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Das kann unterschiedliche Gründe haben. Zum einen liegt es möglicherweise daran, dass ein Großteil der Migranten Muslime sind und daher seit den 1960er-Jahren der Einwanderungsdiskurs und der Islamdiskurs stark verschmolzen sind. Das merkt man auch an den Bildern der Medien. Nicht selten werden Frauen mit Kopftüchern gezeigt, wenn es um eine Berichterstattung über allgemeine Integrationsprobleme geht, die nicht spezifisch auf die religiöse Zugehörigkeit zurückzuführen sind. Zum anderen liegt es wahrscheinlich auch daran, dass der Islam trotz seiner Anlehnung an den Monotheismus eher als eine fremde, ja sogar als eine exotische Religion wahrgenommen wird. Natürlich spielen dabei auch die weltpolitische Lage und der in der letzten Zeit erstarkte (Rechts-)Populismus im In- und Ausland eine entscheidende Rolle. Das soll aber nicht bedeuten, dass es keine spezifischen Integrationsprobleme mit einigen Menschen gibt, die aus muslimischen Kulturräumen kommen. Wichtig ist in diesem Kontext, entscheiden zu können, was kulturell und was religiös bedingt ist. Außerdem dürfen diese spezifischen Probleme weder verallgemeinert werden, noch darf dadurch die ganze Integration infrage gestellt werden. Vielmehr geht es darum, diese gesondert zu behandeln und adäquate Lösungen anzubieten. Und wenn ich Österreich mit anderen Ländern vergleiche, kann ich trotz einiger Baustellen behaupten, dass uns die Integration viel besser gelungen ist als vielen anderen Ländern.
Sehen Sie Widersprüche bzw. Reibungspunkte zwischen dem Islam und europäischen Traditionen und Werten?
Die Frage ist so allgemein, dass sie kaum zu beantworten ist. Über welche Traditionen reden wir und welche Werte sind hier gemeint? Wenn wir diese nicht konkretisieren, werden wir in der Diskussion nicht weiterkommen. Aber die Frage ist ein gutes Beispiel für die Veranschaulichung der ganzen Problematik.
Dann werden wir konkreter. Bietet der Islam Ihrer Meinung nach mehr Raum für Gewalt und Radikalismus als andere Religionen wie das Christentum, Judentum oder der Buddhismus?
Nein, definitiv nicht. Die Religionen sind generell ambivalent. Da die Religionen nicht selbst sprechen, sondern durch Menschen zur Sprache gebracht werden, missbrauchen einige die religiösen Quellen dafür, um ihren eigenen Hass und ihre Gewalt zu legitimieren, während andere sie nutzen, um Frieden zu stiften und den gegenseitigen Respekt zu fördern. Das Gewaltpotenzial ist nicht religiös bedingt, sondern steckt tief in den Menschen selbst. Viele Kriege und Verbrechen tragen nicht die Handschrift der Religionen. Daher muss es uns um die Bildung des Menschen gehen. Denn auch die Ausprägung der Religiosität hängt stark vom einzelnen Menschen ab. Es ist aber nicht zu übersehen, dass aufgrund der anhaltenden Unruhen in Teilen der muslimischen Welt das Phänomen der religiös motivierten Gewalt präsenter ist, was nicht durch die Religion an sich, sondern durch die aktuelle Lage zu erklären ist. Gewalttaten im Namen der Religion, einer Nation oder einer Ideologie hat es leider immer gegeben, was uns zu der Schlussfolgerung führen sollte, dass keine Religion oder Nation vor dieser Gefahr geschützt ist.
Wie gut oder schlecht funktioniert das Zusammenleben zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen in Österreich?
Ich bin der Auffassung, dass das Zusammenleben ganz gut funktioniert. Wenn in Österreich seit 50 Jahren friedliches Zusammenleben herrscht, dann muss davon ausgegangen werden, dass wir grundsätzlich sehr gut zusammenleben können. Dass es auf allen Seiten Menschen gibt, die eine plurale Gesellschaft nicht befürworten und das friedliche Miteinander gerne zerstören würden, ändert nichts an der Tatsache, dass das Zusammenleben relativ gut funktioniert.
Was würde es Ihrer Meinung nach brauchen, um das Zusammenleben weiter zu verbessern?
Wir brauchen insgesamt eine Entpolitisierung und Entemotionalisierung dieser Thematik. Dies wäre ein sehr wichtiger Schritt, um die Spaltung innerhalb der Gesellschaft nicht weiter voranzutreiben. Außerdem brauchen wir mehr Empathie für den anderen, um den anderen besser verstehen zu können. Dabei geht es um die Fähigkeit, sich in die Lage des anderen versetzen zu können und die Welt aus seiner Perspektive zu verstehen. Denn die „Realitäten“ einzelner Personen können sehr unterschiedlich sein. Empathie kann uns ein Gespür für die Bedürfnisse des anderen verleihen, was für mich das Fundament des Zusammenlebens ist. Wir müssen mehr zuhören und versuchen zu verstehen, anstatt ohne jegliche Kenntnis über den anderen zu urteilen. Das bedeutet nicht, dass dadurch alle Probleme gelöst bzw. verhindert werden, aber dieser Zugang zu den Problemen wäre viel effektiver und würde einer gesellschaftlichen Spaltung entgegenwirken.
Kennen Sie selbst oder von Bekannten Situationen, in denen muslimische Gesetze bzw. Regeln im Widerspruch zu österreichischen Gesetzen stehen?
Dass einige religiöse Regeln bzw. Vorstellungen – und zwar nicht nur islamische – im Widerspruch zu staatlichen Gesetzen stehen können, ist kein Novum. Wichtig erscheint aber in diesem Kontext zu unterstreichen, dass nicht die Religion per se im Widerspruch zu den staatlichen Gesetzen steht bzw. stehen kann, sondern eine bestimmte Auslegung der Religion. Dies hängt unter anderem sehr stark damit zusammen, wie religiöse Regeln definiert werden. Werden diese als absolute, unveränderbare und ewig gültige Wahrheiten verstanden, die sich jeglicher Kontextualität entziehen, dann sind Konflikte unvermeidbar. Wenn jedoch die religiösen Normen, speziell jene in Bezug auf die zwischenmenschlichen Beziehungen, als zeitlich und örtlich gebunden angesehen werden, was eine gängige Ansicht in der islamischen Normenlehre gewesen ist, dann gibt es keinen zwingenden Grund für einen Widerspruch.
Glauben Sie, dass man vonseiten der Regierung und der Mehrheitsgesellschaft mit dem Islam bzw. den Muslimen in Österreich und Europa zu hart ins Gericht geht? Vielleicht wegen den radikalislamistischen Anschlägen, die fälschlicherweise mit dem Islam in Verbindung gebracht werden?
Dass man mit einer Religion hart ins Gericht geht, ist Teil der europäischen Tradition. Die Härte der Diskussionen ist für mich persönlich nicht das Problem. Die Frage ist in diesem Zusammenhang eher, ob der Umgang noch fair ist. Und genau das macht mir und sicherlich auch vielen anderen Menschen Sorgen. Es gibt immer wieder Tendenzen, die pauschalisieren und damit alle Muslime und den Islam in seiner Gesamtheit verdächtigen. Und genau an diesem Punkt hört konstruktive Kritik auf. Als eine demokratische Gesellschaft muss es uns gelingen, auch in diesem sensiblen Bereich differenziert und sachlich zu agieren, um Terroristen nicht bewusst oder unbewusst Wasser auf die Mühlen zu gießen. Die Art und die Brutalität der Anschläge zeigt eindeutig, dass es den Attentätern völlig egal ist, wen sie mit in den Tod reißen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass diese Anschläge am meisten den Muslimen und dem Islam geschadet haben. Daher ist in diesem Zusammenhang wichtig, die Bühne nicht den Radikalen zu überlassen. Ich habe oft das Gefühl, dass die extremen Gruppierungen den ganzen Diskurs bestimmen. Folgen wir ihrem Diskurs, können wir nur verlieren.
Wie, denken Sie, wird die aktuell sehr kritische Haltung der Mehrheitsgesellschaft gegenüber Muslimen weitergehen? Werden rechte Parteien an die Macht kommen? Oder wird sich die Situation wieder entspannen?
Das ist schwierig vorherzusehen. Leider gibt es viele negative Tendenzen. Jedoch besteht die Hoffnung, dass die aufgeklärte europäische Gesellschaft aus der Geschichte gelernt hat und weiß, dass Populismus weniger Probleme lösen kann, als er neue schafft. Den europäischen Werten und dem Zusammenhalt könnte schnell ein Ende gesetzt sein.
Wenn derzeit von terroristischen Anschlägen die Rede ist, handelt es sich dabei meistens um islamistisch motivierte Anschläge. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Dies liegt vor allem an der kritischen Situation der muslimischen Welt, die sich zurzeit in einem regelrechten Umbruch befindet. Aber auch die verfehlte Außenpolitik des Westens in der islamischen Welt und im Nahen Osten liefert einen Nährboden für Radikalisierung und macht es den Fanatikern leicht, Menschen zu mobilisieren. Bei der Bekämpfung der Anschläge dürfen wir uns nicht mit den Symptomen, sondern müssen uns mit den Ursachen beschäftigen, wenn wir dieses Phänomen wirklich bekämpfen wollen. Dazu müssen wir für ein gemeinsames Ziel arbeiten.
Geert Wilders hatte vor in den Niederlanden im Falle einer Regierungsbeteiligung den Islam weitgehend zu verbieten. Halten Sie so etwas für möglich?
Ein Blick auf die Geschichte zeigt, dass leider vieles, was für unmöglich gehalten wurde, unter bestimmten Umständen wahr geworden ist. Daher wäre es gefährlich naiv, irgendetwas auszuschließen. Ich vertraue aber auf unsere europäischen Werte und unseren säkularen demokratischen Rechtsstaat. Sollte Wilders oder ein anderer Rechtspopulist so etwas Menschenverachtendes durchsetzen, würde dies für mich der Anfang vom Ende von Europa bedeuten. Denn Rechtspopulisten, so zeigt die Geschichte, zerstören nicht nur andere, sondern auch ihre eigene Gesellschaft. Wenn jemand glaubt, der Rechtspopulismus ziele nur auf die Anderen, dann hat er die Geschichte nicht verstanden. Wie schon erwähnt, bin ich aber immer noch optimistisch, dass unsere freie demokratische Gesellschaft auf festen Fundamenten gründet und wir uns nicht durch Rechtspopulisten zu menschenverachtenden Taten verführen lassen.
Europa steht also vor sehr großen Herausforderungen ...
Dazu gehört auch der Umgang mit Terror. In diesem berechtigten Kampf gegen den Terror, der sich gegen uns alle richtet, müssen wir einen viablen Weg finden, der unseren Werten, auf die wir zu Recht stolz sind, entspricht. Eine demokratische, plurale Gesellschaft muss sich auch in Krisensituationen in ihrer Vorgangsweise von einer undemokratischen unterscheiden. Wir dürfen nicht vergessen, dass unsere Zukunft nicht von den Anschlägen einiger Terroristen abhängt, sondern von unserer Reaktion auf diese Anschläge.
Zekirija Sejdini (geboren 1972) ist der erste Lehrstuhlinhaber für islamische Religionspädagogik an der Universität Innsbruck. Er studierte in Kairo, Istanbul und Heidelberg und war zuvor u. a. Fachinspektor für islamischen Religionsunterricht in Wien.