07 Sozialstaat

„Leistungen des Wohlfahrtstaats definieren sich aus einer Bedürftigkeit heraus. Nicht daraus, was man glaubt, dass einem zusteht.“

Interview mit Franz Schellhorn

Für Franz Schellhorn ist der Wohlfahrtsstaat nach wie vor zeitgemäß und wird seiner Meinung nach im Übergang zur digitalen Wissensgesellschaft eine noch größere Rolle spielen. Entscheidend sei aber, dass der Wohlfahrtsstaat die Brücke in ein selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Leben bildet, sodass möglichst viele in den allgemeinen Topf einzahlen können.

Ist der Wohlfahrtsstaat, wie er in Ländern wie etwa Österreich, Deutschland und Skandinavien seit Jahrzehnten etabliert ist, noch zeitgemäß, leistbar und auf Dauer aufrechtzuerhalten?

Der Wohlfahrtsstaat ist mit Sicherheit noch zeitgemäß. Er hat in Österreich dafür gesorgt, dass die Verteilung der Einkommen trotz der Krise relativ stabil geblieben ist. Mir ist es in diesem Zusammenhang auch ein Rätsel, warum die Verfechter des Wohlfahrtsstaats das nicht stärker bewerben. Stattdessen behaupten sie, dass die Armen immer ärmer würden, dass gute Bildung in Österreich vererbt wird und sozialer Aufstieg kaum noch möglich sei. Das alles würde heißen, dass der Wohlfahrtsstaat nicht wirkt. Dabei ist ihm nur eines vorzuwerfen: Dass der Wohlfahrtsstaat immer mehr Nettoempfänger schafft – und nicht immer mehr Nettozahler. Ziel muss ja sein, dass möglichst viele Menschen selbstbestimmt
und eigenverantwortlich leben, nicht möglichst wenige. Wir müssen also damit aufhören, permanent neue Sozialleistungen ins Leben zu rufen. Wir sollten uns auch stärker an Schweden orientieren – dort wurde der Wohlfahrtsstaat auf ein vernünftiges Maß reduziert.

Was könnten wir uns denn von Schweden abschauen?

Zum Beispiel das Pensionssystem. In Schweden wird die steigende Lebenserwartung berücksichtigt, dementsprechend länger wird gearbeitet. Das Pensionssystem ist finanziell abgesichert, die Steuern und Abgaben liegen auf dem österreichischen Niveau, die Staatsschulden aber sind halb so hoch. Weil die Schweden ihren Sozialstaat zukunftsfit gemacht haben. Sie haben erkannt, dass sehr hohe Staatsschulden nicht die Lösung, sondern ein Problem sind. In guten Jahren werden Budget-Überschüsse erwirtschaftet, die zur Rückzahlung von Schulden verwendet werden – jener Schulden, die in wirtschaftlich schlechten Jahren angefallen sind. In Österreich werden in guter wie in schlechter Konjunktur Schulden gemacht. Seit mittlerweile 55 Jahren ist der Bundeshaushalt ohne Unterbrechung im Minus.

Welche demografischen, soziologischen oder psychologischen Argumente sprechen grundsätzlich für einen Wohlfahrtsstaat? Anders gefragt: Warum brauchen wir ihn?

Der Wohlfahrtsstaat wird im Übergang zur digitalen Wissensgesellschaft eine noch größere Rolle spielen. Nicht alle werden mithalten können, es wird Verlierer geben – und diese Menschen muss der Wohlfahrtsstaat auffangen. Zudem ist die Idee, jenen Menschen zu helfen, die auf die Hilfe anderer angewiesen sind, eine richtige. Dasselbe gilt für das Ziel, ungleiche Startchancen zu korrigieren. Wenn jemand das Pech hat, im falschen Wiener Bezirk zur Welt zu kommen, sollte das nicht das Ende der Erwerbskarriere bedeuten. Was derzeit übrigens der Fall ist. Das scheint die Sozialpolitiker aber nicht sonderlich zu kümmern. Statt die Unzulänglichkeiten im öffentlichen Bildungssystem anzusprechen, fordern sie lieber Vermögenssteuern. Das ändert aber an der katastrophalen Situation der betroffenen Schüler nichts. Vermögenssteuern scheinen aber das neue Allheilmittel zu sein: Ob Pflege, Entlastung des Faktors Arbeit oder Bildung, jedes Problem scheint sich mit Substanzsteuern lösen zu lassen. 

Was sind denn die Voraussetzungen dafür, dass ein Wohlfahrtsstaat funktioniert? Dass also alle damit zufrieden sind und sich niemand benachteiligt fühlt.

Es werden nie alle zufrieden sein. Entscheidend ist, dass der Wohlfahrtsstaat die Brücke in ein eigenständiges Leben bildet. Dass möglichst viele Menschen leistungsfähig werden, um in die allgemeinen Töpfe einzuzahlen, damit genug Geld für jene da ist, die zwar wollen, aber nicht mehr können. Derzeit ist es allerdings so, dass zu viele Anreize für jene Menschen gesetzt werden, die eigentlich noch könnten. Aber nicht mehr wollen. Man denke nur an das frühe Pensionsantrittsalter: Wir gehen immer noch im selben Alter in Pension wie zu Beginn der 1970er-Jahre, seither ist aber die Lebenserwartung um rund elf Jahre gestiegen. Man muss kein Versicherungsmathematiker sein, um zu wissen, wo das zentrale Problem liegt.

Welche Erwartungen hat die Bevölkerung an einen Wohlfahrtsstaat? Und wie haben sich diese Erwartungen in den vergangenen Jahren verändert?

Die Erwartungen an den Wohlfahrtsstaat sind in jedem Fall viel zu hoch. Die Bürger erwarten sich eine Rundumversicherung, nicht nur eine Absicherung vor größter Armut. Besonders gut sieht man das an der Pensionsdebatte. Ziel ist nicht, mit der Pension den Lebensstandard zu halten, sondern nicht in die Altersarmut abzurutschen. Hier hat sich viel verschoben, auch weil die Verfechter des Wohlfahrtsstaats die Leistungen immer weiter ausbauen. Aber ist es sozial, dass Gutverdiener einen Gratis-Kindergartenplatz für ihren Nachwuchs bekommen? Ist es sozial, junge Menschen, die noch keine Betreuungspflichten haben, in AMS-Weiterbildungskurse zu stecken, statt sie dazu aufzufordern, in einem weiter entfernten Bundesland einen freien Job anzunehmen? Leistungen des Wohlfahrtstaats definieren sich aus einer Bedürftigkeit heraus. Nicht daraus, was man glaubt, dass einem zusteht.

Kommen wir zur Migration, dem dominierenden innenpolitischen Thema der vergangenen Jahre. Welche Herausforderung stellt sie für den Wohlfahrtsstaat dar?

Eine große. Es ist kein Zufall, dass die meisten Flüchtlinge und Migranten nach Schweden, Deutschland und Österreich wollten. Das liegt nicht an den klaren Seen, sondern an der guten wirtschaftlichen Lage sowie den finanziellen Anreizen. Hinzu kommt, dass vor allem schlecht Qualifizierte auf den Arbeitsmarkt zuwandern und nicht – wie in den klassischen Zuwanderungsländern – hoch Qualifizierte aus aller Welt. Das ist auch der erklärte politische Wille. Ganz nach dem Motto eines früheren Bundeskanzlers: Fachkräfte brauchen wir nicht, die haben wir schließlich selber.

Welche historischen Erfahrungen hat man mit dem Einfluss bzw. mit den Folgen von Migration auf den Wohlfahrtsstaat gemacht? Positive? Negative?

Sowohl als auch. Es hängt alles davon ab, wie schnell Zuwandernde auf dem Arbeitsmarkt zu integrieren sind. Grundsätzlich ist aber festzustellen, dass Wohlfahrtsstaaten nur mit kontrollierter Zuwanderung funktionieren. Und damit, dass auch die Österreicher nicht dauerhaft mehr Geld aus den Sozialsystemen entnehmen können, als sie in selbige einzahlen.

Unterscheiden sich die Erwartungen von Migranten an den Wohlfahrtsstaat von jenen der Mehrheitsbevölkerung? Zum Beispiel in Österreich?

Das lässt sich pauschal so nicht beantworten. Aber es ist natürlich klar, dass eine Mindestsicherung inklusive Sachleistungen im Gegenwert von 25.000 bis 30.000 Euro netto in Wien für eine Familie mit drei Kindern sehr viel Geld ist. Das gilt für Migranten genauso wie für die österreichische Bevölkerung. Wenn ein Alleinverdiener so viel Geld am Arbeitsmarkt verdient, liegt das Markteinkommen bei 45.000 bis 50.000 Euro. Das muss man erst einmal verdienen. Soll heißen: Der Anreiz, einen Job anzunehmen, der mit einer deutlichen Reduktion des Einkommens einhergeht, ist nicht sehr groß. In der Ökonomie spricht man von einer Inaktivitätsfalle. Aufgestellt wurde sie vom Staat, nicht von den Empfängern, letztere handeln nur rational.

Was halten Sie von dem Vorschlag, wonach Migranten erst dann dieselben Ansprüche wie die Mehrheitsbevölkerung auf Sozialleistungen haben, wenn sie einige Jahre in diesem Wohlfahrtsstaat gelebt und darin eingezahlt haben?

Das ist vor allem eine rechtliche Frage. Entscheidend ist aus meiner Sicht, dass es Österreich gelingen muss, verstärkt hochtalentierte Migranten anzuziehen. Das müsste ja möglich sein, immerhin wird Wien ja immer wieder zu den lebenswertesten Städten der Welt gekürt.

Blicken wir in die Zukunft. In welche Richtung wird sich der Wohlfahrtsstaat in Europa entwickeln? Welche denkbaren Szenarien gibt es?

Er wird in ganz Europa weiter ausgebaut werden, vor allem wegen der grassierenden Ängste rund um das Thema Digitalisierung. Das Problem ist nur, dass wir schon sehr viel Geld für die Einhaltung unsinniger politischer Versprechungen aus der Vergangenheit ausgegeben haben. Wir gehen seit Jahrzehnten auf Kosten der nachfolgenden Generation viel zu früh in Pension. Die alles entscheidende Frage wird also sein, ob diese nachfolgenden Generationen in der Lage sein werden, die stark steigenden Kosten des Sozialstaats zu schultern. Oder ob es so sein wird, dass sie im Zuge der Digitalisierung auf den hohen sozialen Kosten sitzenbleiben, während die Wertschöpfung andernorts anfällt.

Gibt es Best-Practice-Beispiele für Wohlfahrtsstaaten, die mit den Herausforderungen der Gegenwart oder Vergangenheit besonders gut umgehen?

Ja, Schweden. Das Hochsteuerland hat heute wie gesagt mit derselben Steuer- und Abgabenquote wie Österreich halb so hohe Staatsschulden. Das liegt vor allem daran, dass in guten Jahren Überschüsse anfallen, die nicht für neue Wahlgeschenke genützt werden, sondern zur Rückzahlung der Schulden. Die Schweden haben ihre Staatsfinanzierungskrise in den 1990er-Jahren dazu genutzt, den Wohlfahrtsstaat grundlegend zu sanieren. So wurde die Höhe der Pension an die Lebenserwartung gekoppelt (sogenannte Pensionsautomatik). Jeder Schwede weiß mit einem Blick, wie viel Geld auf seinem staatlichen Pensionskonto liegt und wie hoch die Rente wäre, wenn sie demnächst angetreten werden würde. Die Bürger entscheiden, ob ihnen das reicht oder ob sie noch länger arbeiten sollten. In Sachen Digitalisierung zählen die Skandinavier übrigens zu den Vorbildern.

Kann man eigentlich einen Staat führen wie ein Unternehmen? Also nach Möglichkeit gewinnbringend oder zumindest kostendeckend?

Was auf jeden Fall möglich ist: den Staat so zu führen, dass zumindest in wirtschaftlich guten Jahren weniger Geld ausgegeben als eingenommen wird. Damit jene Schulden zurückgezahlt werden können, die in wirtschaftlich schlechten Jahren anfallen. Deutschland zeigt das sehr gut. Das Land hat noch immer hohe Kosten der Wiedervereinigung zu tragen, erwirtschaftet aber mit einer Steuer- und Abgabenquote von 40 Prozent Überschüsse, während Österreich mit 43 Prozent Defizite schreibt. Deutschland wird nicht wie ein Unternehmen geführt – sondern wie ein verantwortungsvoller Staatshaushalt eben zu führen ist.

Ist die Sozialpartnerschaft ein Symptom von Harmoniesucht?

Sie hatte im Nachkriegsösterreich große Verdienste, heute ist sie zum Selbstzweck geworden. Andernfalls bräuchte es im Jahr 2017 auch keine verpflichtende Mitgliedschaft in den Kammern. Das ist auch der Grund, warum AK und WKÖ auf europäischer Ebene nicht in den Kreis der Sozialpartner aufgenommen werden, sondern ÖGB und IV, die auf freiwilliger Mitgliedschaft gründen. 

Was halten Sie von der Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen?

Ich stehe der Idee grundsätzlich positiv gegenüber. Vor allem dann, wenn es an die Stelle der großen Sozialbürokratie tritt. Was mich aber stört, ist, dass auch Leistungsfähige in den Genuss eines Grundeinkommens kommen. Das ist nicht gerade das, was ich unter sozial verstehe. Aus meiner Sicht ist es die Pflicht aller Leistungsfähigen, in den allgemeinen Topf einzuzahlen und nichts zu entnehmen. Hinzu kommt, dass ein Grundeinkommen innerhalb der EU nicht zu machen ist. Stellen wir uns nur einmal vor, Österreich würde so etwas einführen – das löste eine kleine Völkerwanderung aus. Selbst, wenn man vor der Auszahlung einige Jahre im Land gelebt haben müsste.

Franz Schellhorn ist seit 2013 Direktor der Agenda Austria, einem unabhängigen Thinktank, der sich mit wirtschafts-, sozial- und steuerpolitischen Themen befasst. Vorher leitete er acht Jahre lang das Wirtschaftsressort der Tageszeitung „Die Presse“. 

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