10 Heimat und Identität

"Man kann in unseren Gesellschaften denken, was man will – aber nicht tun, was man will."

Interview mit Gerhard Pfister

Gerhard Pfister bekräftigt, dass Heimat vor allem orts- und herkunftsgebunden ist. Aus diesem Grund kann der Menschen auch an neuen Orten "heimisch" werden. Wenn Integration gelingt, kann eine neue Heimat entstehen. Das Gelingen hängt aber von Migranten selbst stärker ab als von der Mehrheitsgesellschaft.

Wie definieren Sie Heimat?

Eine eigentliche Definition von Heimat überlasse ich den entsprechenden Lexika-Autoren. Mir persönlich scheint Heimat sehr stark mit Kindheit und auch mit Erinnerung zu tun zu haben. Heimat ist zunächst einmal die Gegend, in der man aufgewachsen ist, in der man lebt oder gelebt hat. Deshalb ist Heimat natürlich vor allem orts- und herkunftsgebunden. Und deshalb kann der Mensch natürlich auch an neuen Orten „heimisch“ werden, sich integrieren und etwas zu einer zweiten Heimat werden lassen.

Ist es Ihrer Meinung nach auch möglich, dass eine neue Heimat eine alte ersetzen kann?

Natürlich. Wenn Integration gelingt, kann eine neue Heimat entstehen. Das Gelingen hängt aber von den Migranten selbst stärker ab als von der Mehrheitsgesellschaft. Die europäischen Gesellschaften gehören zu den attraktivsten – gerade, weil sie offen und tolerant sind. Damit diese Offenheit aber auch bleiben kann, müssen die westlichen Gesellschaften von allen, die hier leben wollen, nicht nur den Migranten, wieder mehr Verbindlichkeit zur Toleranz, Freiheit und vor allem zum Rechtsstaat einfordern. Toleranz gegenüber Intoleranten ist gefährlich.

Der Begriff Heimat ist derzeit allgegenwärtig, nicht nur in politischen Debatten. Worauf führen Sie das zurück?

Vielleicht darf ich etwas weiter ausholen. Der Zusammenbruch des Sozialismus 1989, das Ende des Kalten Krieges, führte im Westen zur Annahme, mit dem Sieg des Kapitalismus sei das „Ende der Geschichte“ gekommen und seien die grundlegenden Konflikte erledigt. Es breche eine Zeit des Wohlstands und des Friedens für alle Menschen an. 9/11 ist die Ikone dieses Irrtums des Westens. Fragen der Identität, Kultur, auch der Religion prägen neue Konfliktlinien, die wir übersehen haben. Deshalb findet heute im Westen eine Selbstbefragung über die Werte statt, die sein Gesellschaftsmodell ausmachen. Die Migrationskrise, der Zerfall von Staaten im Nahen Osten, auch in Nordafrika, die Anfragen des Islam an den Westen – all das führt dazu, dass wir Fragen diskutieren müssen, die wir in den 1990er-Jahren als obsolet betrachteten.

Das heißt, in Zeiten von Globalisierung und Migration gewinnt Heimat an Bedeutung?

Es gibt den Slogan „think global, act local”. Zu glauben, die Globalisierung mache Heimat obsolet, ist ein Irrtum. Im Gegenteil: je globaler die Weltorganisation, desto wichtiger wird Heimat. Nur wer weiß, wo seine Wurzeln sind, kann anderen Kulturen verständnisvoll begegnen. Globales Denken ist nur dann erfolgreich, wenn es das richtige lokale Handeln generiert. Die Migrationskrise macht es noch dringender nötig, die eigene Identität zu reflektieren.

Weil Sie „Migrationskrise“ sagen: Beobachten Sie in der Gesellschaft als Folge von Migration eine gewisse Sorge vor Heimatverlust?

Ich bin nicht sicher, ob man das so allgemein sagen kann. Ich stelle einfach fest, dass es tatsächlich mehr Menschen gibt, denen diese Entwicklungen auch Sorgen bereiten. Aufgabe der Politik wäre es, diese Sorgen nicht einfach als unnötig abzutun, sondern Antworten zu liefern, die Sorgen ernst zu nehmen und eben auch Grenzen gegenüber jenen zu setzen, die unsere Werte ablehnen oder gar bekämpfen. Je weniger die Politik dies tut, desto größer wird der Zulauf für populistische oder gar links- oder rechtsradikale Gruppierungen.

Ist es auch die Aufgabe der Politik, so etwas wie eine gemeinsame kulturelle Identität zu fördern?

Für mich ist der Begriff der Leitkultur, falls Sie darauf hinauswollen, ein diskursiver: Leitkultur heißt für mich das stete Aushandeln und Diskutieren der Regeln des Zusammenlebens in einer offenen westlichen Gesellschaft. Es geht nicht darum, Identität und Kultur vorschreiben zu wollen – schon gar nicht eine bestimmte; sondern es geht darum, was in unserer Gesellschaft gilt. Man kann in unseren Gesellschaften denken, was man will. Aber man kann nicht tun, was man will.

Das bedeutet was konkret?

Dass in einer demokratischen Gesellschaft nicht entscheidend ist, was man glaubt. Die Religionsfreiheit ist garantiert. Aber in unserer Gesellschaft kann man nicht unter Berufung auf die Religionsfreiheit so handeln, dass das friedliche Nebeneinander gefährdet wird. Oder sich der Integration verweigern und religiös begründete Ausnahmen von rechtsstaatlichen Regeln beanspruchen. Hier sind von der Gesellschaft und vom Staat klare Integrationsanforderungen zu deklarieren und durchzusetzen.

Nicht nur Heimat, auch der Begriff der Identität wird in gesellschaftlichen Debatten über Integration, Kultur und Gemeinschaft zumeist kontrovers diskutiert …

Eine kontroverse Debatte ist der Normalfall in einer lebendigen demokratischen Gesellschaft. Gefährlicher sind gar keine Debatten oder eine einseitige Debatte, in der andere Meinungen einfach niedergeschrien oder tabuisiert werden. In Deutschland ist die AfD nur deshalb so stark geworden, weil die Auseinandersetzung mit den Gründen, warum sie Zuspruch erhält, in den Medien zu wenig geführt wird. Aus durchaus verständlichen Gründen, betrachtet man die belastete Geschichte Deutschlands. Dennoch schadet das reflexartige bloße Bashing einer vertieften argumentativen Auseinandersetzung. Noch vor 15 Jahren wurde Friedrich Merz mit seiner Forderung nach einer Debatte über eine Leitkultur angefeindet. Heute kann Bundeskanzlerin Angela Merkel diesen Begriff verwenden, ohne dass sich jemand daran stößt.

Wie kann denn eine gemeinschaftliche Identität bzw. ein gemeinsames Narrativ entstehen, mit dem sich die Mitglieder einer Gesellschaft einigermaßen identifizieren können?

Nur durch sachliche, kritische und kontroverse Diskussion ohne falsche Tabus und mit klaren Prinzipien wie dem Bekenntnis zum Rechtsstaat sowie – das wird immer wichtiger – zum Gewaltmonopol des Staates. Zu viele Menschen sind noch bereit, Gewalt etwas weniger schlimm zu finden, wenn sie mit ideologischen Versatzstücken „begründet“ wird, die ihnen nahe sind. Es darf keinen Unterschied machen, ob ich gegen Polizisten oder generell gegen Sachen und Menschen Gewalt anwende, ob ich dies im Namen von Gerechtigkeit, des Islam, der Kapitalismuskritik oder der Rassenideologie tue. Das Gewaltmonopol muss uneingeschränkt beim Staat bleiben. Der Rechtsstaat muss sich überall uneingeschränkt durchsetzen. Daran müssen wir zuerst arbeiten, bevor ein gemeinsames Narrativ einer Gesellschaft überhaupt erst Thema werden kann.

In Zusammenhang mit Zugehörigkeit, Identifikation und Heimat ist immer wieder auch von Vertrauen in eine Gesellschaft die Rede. Was bedeutet denn Heterogenität für das Vertrauen in eine Gesellschaft?

Ich bin nicht sicher, ob es um das Vertrauen in die Gesellschaft geht. Es geht mehr um das Vertrauen in die Politik und in ihre Fähigkeit, Probleme zu lösen. Die offene Gesellschaft, wie sie Karl Popper skizzierte, hat neben dem Totalitarismus, vor dem Popper warnte, einen neuen Gegner erhalten: den Atomismus, den Verlust von gemeinsam getragenen Werten, den übertriebenen Individualismus und den Egoismus. Die westlichen Gesellschaften sind angreifbar, gerade weil sie offene Gesellschaften sind. Diese Offenheit gilt es zu bewahren. Aber das heißt auch, dass die Politik die Sicherheit der Menschen garantieren muss. Ohne diese gibt es keine Freiheit. Die Politik darf keine rechtsfreien Räume zulassen, keine Parallelstrukturen oder Parallelgesellschaften. Und was den Begriff der Zugehörigkeit angeht – es geht auch weniger um Zugehörigkeit als um Integration: Wenn ich sehe, dass es in Deutschland und Frankreich Jugendliche gibt, die schon in der vierten Generation in Europa leben, aber nicht bereit sind, den Rechtsstaat über alles zu stellen, dann komme ich nicht umhin, Politikversagen festzustellen.

Inwiefern? Wo genau gab es Versäumnisse, die sich jetzt in dieser vierten Generation bemerkbar machen?

Wenn noch bei Menschen, die in der vierten Generation hier leben, das klare Bekenntnis zum Rechtsstaat fehlt, dann sind das offenbar massive Integrationsversäumnisse – einerseits von den Migrantenfamilien, andererseits von der Politik. Integration heißt eben mehr als das bloße Miteinander. Wer ganze Stadtquartiere bestimmten Migrantengruppen überlässt, muss sich nicht wundern, wenn dort parallele gesellschaftliche Strukturen entstehen können. Dann ist man nicht mehr weit davon entfernt, dass sich der Rechtsstaat nicht mehr durchsetzen will oder kann. Ghettobildung ist die Konsequenz, und damit können Jugendliche in einem Land aufwachsen, die keinerlei Bezug zu diesem Land haben.

Apropos Ghettos: Wie viel Zugehörigkeit und Identifikation mit der Aufnahmegesellschaft bzw. ihrer Lebensweise, ihren Werten und ihrer Kultur ist für die Integration von Zuwanderern und Flüchtlingen zwingend notwendig? 

Zunächst ist das Bekenntnis zum Rechtsstaat nötig. Die Unterordnung der Kultusfreiheit und des Verhaltens unter den Rechtsstaat. Wer in der westlichen Gesellschaft leben will, hat sich den Werten dieser Gesellschaft wie Freiheit und Gleichheit aller Menschen zu fügen.

Wenn es darum geht, das Zugehörigkeitsgefühl von Migranten zu fördern – wer trägt hier die größte Verantwortung? 

Die größte Verantwortung liegt bei den Migranten selbst. Es hat Gründe, warum für Migranten westliche Gesellschaften attraktiver sind, warum unsere Gesellschaften mehr Perspektiven bieten können, auch Schutz. Wer das will, hat diese Gründe zu beachten. 

Weil wir vorhin über die Integrationsunwilligkeit der vierten Generation gesprochen haben: Was sind Ihrer Meinung nach Gründe dafür, dass sich Menschen mit einem Land und seiner Kultur bzw. Lebensweise nicht identifizieren, obwohl sie seit Jahrzehnten in diesem Land leben?

Es braucht nicht unbedingt Identifikation. Aber es braucht Respekt vor Rechtsstaat, Respekt für die Toleranz, Freiheit und Solidarität. Entscheidend ist das Verhalten der Menschen. Wer in westlichen Gesellschaften gottesstaatliche Regeln über rechtsstaatliche stellt, bekämpft einen wesentlichen Pfeiler des friedlichen Zusammenlebens in einer offenen Gesellschaft und muss entsprechend die Konsequenzen übernehmen.

Und wie ist umgekehrt zu erklären, dass sich Menschen mit Ländern, Kulturen und Gepflogenheiten identifizieren, die tausende Kilometer entfernt sind?

Ich bin nicht sicher, ob es eine Identifikation mit einer Kultur ist oder eher die politische Instrumentalisierung von kulturellen, religiösen oder ideologischen Versatzstücken. Sofern sie antidemokratischen Inhalt haben, hat der Staat einzuschreiten. Er muss die Sicherheit und Freiheit gewährleisten können.

Gerhard Pfister zählt zu den intellektuellsten europäischen Spitzenpolitiker. Seit 2003 ist er Schweizer Nationalratsabgeordneter und seit 2016 Präsident der CVP Schweiz. Nach seinem Germanistik- und Philosophiestudium dissertierte er über Peter Handke und leitete 14 Jahre ein Schulinternat. Er ist Präsident des Verwaltungsrats der Elementa Group AG Zug und Delegierter und Mitglied des Verwaltungsrats der Institut Montana Zugerberg AG.

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