06 Parallelgesellschaften

„Noch nie war es so simpel, engsten Kontakt mit seinem Heimatland, aber keinen mit seiner Nachbarschaft zu pflegen.“

Interview mit David Engels

Für David Engels bezeichnet der Begriff Parallelgesellschaft eine menschliche Untergruppe, die innerlich durch feste identitäre Klammern verbunden ist, die aber von der jeweiligen übergeordneten Gruppe nicht als verbindlich angesehen werden. Zwar bedeutet das laut ihm nicht zwangsläufig eine Konfliktsituation, allerdings wenn es um die Verteilung knapper Ressourcen geht, kann dies schnell zu Spannungen führen.

Wie genau definieren Sie Parallelgesellschaften?

Die Definition des Wortes „Parallelgesellschaft“ ist natürlich eine sehr subjektive Angelegenheit. Für mich scheint der Begriff wenigstens so, wie er heute meist benutzt wird, eine menschliche Untergruppe zu bezeichnen, welche innerlich durch feste identitäre Klammern verbunden ist, die zumindest in ihrer Mehrzahl nicht von der jeweiligen übergeordneten Gruppe als verbindlich angesehen werden. Dies impliziert nicht unbedingt schon per Definition eine konfliktuelle Situation, sondern kann sich durchaus nur auf ein bloßes Nebeneinander ohne allzu viele gegenseitige Berührungsflächen beziehen, das an die Stelle des allgemeinen gesellschaftlichen Miteinanders tritt. Es ist aber klar, dass aus einem solchen Nebeneinander im Krisenfall, wenn es um die optimale Verteilung knapper Ressourcen geht, schnell ein Gegeneinander entstehen kann. Denn die Bereitschaft zu zwischenmenschlicher Solidarität nimmt erfahrungsgemäß zu, je größer die Zahl der geteilten Eigenschaften ist. An oberster Stelle stehen meist Familienbande, dann Elemente wie Nachbarschaft, Glaube, Sprache, Klasse, Ethnie, Nation, Kultur etc. Je schwächer die geteilte Identität, umso geringer wird die Bereitschaft zur Solidarität, sodass jene Parallelgesellschaften, je homogener und nach außen hin abgeschlossener sie auftreten, eine große soziale Sprengkraft im Rahmen der Gesamtgesellschaft entwickeln können.

Wo liegen die Probleme bzw. Gefahren von Parallelgesellschaften?

Wie jede gesellschaftliche Gruppe tendieren auch Parallelgesellschaften unweigerlich zum Erhalt ihrer Existenz und müssen daher, wollen sie nicht untergehen, permanent die schwere Gratwanderung zwischen den Extremen völliger Selbstauflösung und völliger Selbstausgrenzung meistern, die häufig in Verfolgung oder Vertreibung mündet. Die Aufrechterhaltung der Gruppenidentität kann deshalb nur eine begrenzte Assimilation und Integration zulassen. Welches Maß hier erlaubt und notwendig ist, hängt vom jeweiligen Kontext und vor allem von jenen identitären Werten ab, die den wesentlichen Gehalt von Gesamt- und Parallelgesellschaft bilden. Man könnte hier viele Beispiele anführen, denen allen natürlich eine gewisse Vereinfachung innewohnt: Die vedischen Einwanderer ins alte Indien waren vornehmlich auf die Beibehaltung ihrer ethnischen Identität bedacht, die Hugenotten auf das sola fide, die Juden auf ihre Reinheitsgebote, die chinesischen Minderheiten auf ihre Sprache etc. Je homogener und in sich geschlossener eine Parallelgesellschaft ist, desto schwieriger wird freilich die Integration. Im Westen wird dies vor allem bei den islamischen Parallelgesellschaften deutlich, bei denen im Gegensatz zur europäischen Mehrheitsgesellschaft Sprache, Glaube, Recht und Reinheitsgesetze eine untrennbare Einheit bilden, deren Separierung nicht möglich ist, ohne den eigentlichen Zusammenhalt der Gruppe radikal zu gefährden.

Welchen Zusammenhang kann es zwischen Parallelgesellschaften und Radikalisierung geben? Begünstigen Parallelgesellschaften Radikalisierungen?

Radikalisierung und Assimilierung sind die beiden entgegengesetzten Pole, zwischen denen eine jede Parallelgesellschaft oszilliert. Inwieweit es zu einem der beiden Extreme kommt, hängt vom jeweiligen gesamtgesellschaftlichen Rahmen ab. Radikalisierung ist dabei meist eine Antwort auf eine Schwächesituation, sei es die Schwäche der eigenen Gruppe, welche unbewusst durch Überkompensierung überspielt werden soll, um völlige Assimilation und somit Auflösung zu verhindern, sei es die Schwäche der mehrheitlichen Gesellschaft, welche der immer bestehenden Tendenz zur Selbstabgrenzung der Parallelgesellschaft keinen Widerstand entgegensetzt bzw. keine ausreichenden Anreize zur größeren Integration liefert und somit implizit die Stärkung der Parallelgesellschaft fördert.

Welche, wie Sie es nennen, Schwächesituation dominiert Ihrer Meinung nach aktuell?

Im gegenwärtigen Fall der westlichen Gesellschaft begegnen uns beide Faktoren gleichzeitig. Zum einen hat sich die Forderung nach identitärer Inklusivität solchermaßen verstärkt, dass der Anreiz zur Assimilation für viele Parallelgesellschaften nur noch sehr gering ist und „Integration“ kaum wesentlich mehr bedeutet als ein oberflächliches Beachten der Gesetze – und auch hier meist eher dem Buchstaben nach als dem Geiste. Zum anderen stellt die zunehmend konsumorientierte, hedonistische und weitgehend tabulose westliche Gesellschaft eine große Herausforderung gerade für moralbewusste Gruppen dar, sodass der Drang zur Selbstabschließung proportional mit dem wächst, was man als den „Verführungsgrad“ unserer westlichen Welt bezeichnen könnte.

Welche Irrtümer bzw. Missverständnisse gibt es rund um Parallelgesellschaften?

Zum ersten beruht die gegenwärtig vertretene Interpretation des Multikulturalismus als ein wünschenswerter Zustand auf Werten, die in vielen Fällen von den Parallelgesellschaften außereuropäischer Prägung eben nicht unbedingt geteilt werden, sodass es eines komplexen Lehr- und Lernprozesses bedürfen würde, einen zufriedenstellenden Grundkonsens herzustellen. Dann aber stellt sich freilich die Frage, inwieweit das Resultat einer solchen Annäherung noch tatsächlich im echten Sinne „multikulturell“ sein oder vielmehr lediglich eine oberflächliche Ausschmückung der westlichen Kultur mit einigen folkloristisch-exotischen Zügen bedeuten würde. Denn eigentlich handelt es sich bei dem Versuch, die westliche Gesellschaft ausschließlich auf universalistische Werte zu gründen, um ein bestenfalls naives, schlimmstenfalls kulturimperialistisches Vorhaben. Sind doch Werte wie etwa „Freiheit“, „Gerechtigkeit“, „Gleichheit“ etc. in ihrer konkreten Anwendung auf den Einzelfall zutiefst vom jeweiligen lebensweltlichen Kontext abhängig, sodass auf eine gut gemeinte, letztlich aber ungewollte, mit westlichen Erwartungen verbundene Toleranz fremden Gruppen gegenüber oft ein böses Erwachen seitens der Mehrheitsgesellschaft folgen kann.

Heißt das, es gibt in Europa zu viel Toleranz gegenüber Parallelgesellschaften?

Die Bereitschaft zur Tolerierung von Parallelgesellschaften ist heute meist nicht etwa in dem positiven Bekenntnis zur eigenen westlichen Kultur verankert, sondern vielmehr in einer seit nunmehr drei Generationen gepflegten, beständig angewachsenen Schuldkultur, die zu einer grundlegenden Infragestellung der eigenen historischen Vergangenheit und Tradition geführt hat. Diese kann nun bei Mitgliedern anderer kultureller Gruppen durchaus auf Unverständnis stoßen, deren verständliche Überkompensierung der eigenen, von Assimilation bedrohten Identität in der Selbstkasteiung der westlichen Kultur und der davon abgeleiteten, oft überzogenen Idealisierung anderer Kulturen eine gefährliche Resonanz zu finden droht. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass die „Moderne“ mit ihren neuen technologischen Voraussetzungen und der Globalisierung entgegen einer weitverbreiteten Hoffnung gerade nicht den idealen Rahmen für eine Versöhnung der menschlichen Gesellschaften bietet, sondern paradoxerweise im Gegenteil deren zunehmende Zersplitterung fördert: Noch nie war es so einfach, sich in seinen Kommunikationsmöglichkeiten auf die eigene Gruppe zurückzuziehen. Noch nie war es so simpel, engsten Kontakt mit seinem Heimatland, aber keinen mit seiner Nachbarschaft zu pflegen.

Eine provokante Frage: Können Parallelgesellschaften in einer multikulturellen Gesellschaft auch Vorteile haben?

Stellen wir die Frage, ob Parallelgesellschaften zu einer allgemeinen kulturellen Bereicherung führen, ist dies zum einen sicherlich zu bejahen – denn es bieten sich Möglichkeiten des Austauschs, die einer völlig homogenen Gesellschaft versagt bleiben würden. Zum anderen ist natürlich festzustellen, dass ein solcher Austausch in dem Maße schwieriger wird, in dem sich jene Parallelgesellschaften nach außen hin abgrenzen und eben nicht an gleichberechtigtem Austausch und somit Akzeptanz der Position des anderen interessiert sind, sondern vielmehr an einer zunehmenden Auflösung möglicher Schnittmengen zum Zwecke der Selbsterhaltung bzw. sogar Expansion. Sprechen wir allerdings von der langfristigen politischen Stabilität eines multikulturellen Systems, müssen wir klar zwischen einem Modell unterscheiden, welches nur auf dem Nebeneinander mehr oder weniger unverbundener Parallelgesellschaften beruht, und einem solchen, dem eine tatsächliche Vermischung verschiedenster Kulturen gelingt. Im ersten Fall werden die Grenzen zwischen den einzelnen Bestandteilen einer solchen Gesellschaft im Krisenfall gleichzeitig auch unweigerlich zu Bruchlinien. Im zweiten Fall ist zu erwarten, dass eine echte, synkretistische Durchmischung früher oder später zur Herausbildung einer neuen, homogenen Gesellschaft führt und aus der Multi- – letztlich ungewollt – eine neue, synkretistische Monokultur entsteht.

Wie sehr darf bzw. soll sich die Regierung grundsätzlich in Gesellschaften einmischen, etwa bei Pflichten für frisch Zugewanderte?

Die Antwort auf diese Frage erfolgt in direkter Konsequenz aus der legalen Selbstdefinition der Mehrheitsgesellschaft, deren Erhalt die Pflicht der jeweiligen Regierung sein muss. Zurzeit herrscht in dieser Hinsicht in den meisten europäischen Staaten eine große Ungewissheit. Diese ist darauf zurückzuführen, dass sich die Situation einer Verrechtlichung der Integration mit ebenso rasch eingewanderten wie zahlenmäßig starken und kulturell fundamental unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen seit Jahrhunderten nicht mehr gestellt hat, sodass eine bloße Fortsetzung der bisherigen rechtlichen Situation schwer möglich scheint. Denn die klassische Prozedur ging erfahrungsgemäß implizit ebenso vom Willen nach Integration wie ihrer eher unproblematischen kulturellen Umsetzung aus und konnte sich deshalb auf den Respekt einiger weniger, rein universalistischer Rahmenbedingungen konzentrieren. Heute stellt sich daher in dringendster Weise die Frage nach dem politischen Willen zur Neugestaltung der Gesellschaft: Will man die historisch gewachsene, christlich-humanistisch geprägte bisherige europäische Leitkultur mit ihren verschiedenen nationalen Prägungen weiterhin als Klammer und Leitbild der Gesamtgesellschaft konservieren?

Was, wenn man das will?

Dann muss man freilich die bisherigen, rein universalistisch formulierten rechtlichen Vorgaben mit ihren zahlreichen Grauzonen um das Bekenntnis zur Werthaftigkeit des spezifischen, in Europa entwickelten Menschenbilds ergänzen und zwar nicht eine direkte Übernahme dieses Bildes, aber doch eine gewisse Anpassung der Leitideen der neu entstandenen Parallelgesellschaften hieran einfordern. Oder will man vielmehr die gegenwärtige Lage zum Anlass nehmen, Europa als gewachsene Kultur grundsätzlich infrage zu stellen – und das bisherige abendländische gesellschaftliche Leitbild auf den Rang einer Parallelgesellschaft unter vielen anderen zurückstufen, welche alle von nun an eben nicht mehr unter den Grundvoraussetzungen europäischer Kultur, sondern einer neuen, universalistischen Weltzivilisation koexistieren? In diesem Falle müssen die Anforderungen an jene neuen Parallelgesellschaften natürlich ganz anders ausfallen. Klar ist in jedem Fall, dass der Staat eines festen Rahmens bedarf, um die Integration jener Gruppen zu steuern. Außerdem verspricht das Ergebnis der Bemühungen nur dann Dauerhaftigkeit, wenn es von der gesamten Gesellschaft getragen wird und Resultat eines transparenten demokratischen Prozesses ist nicht aber einer aufoktroyierten Entscheidung der Eliten „für“ das Volk, wie dies in den letzten Jahren bei analogen Fragen nur allzu oft der Fall war, denkt man etwa an das Zustandekommen des Vertrags von Lissabon.

Wie kommt es, dass amerikanische Großstädte stolz sind auf ihre Parallelgesellschaften, die sich „China Town“ oder „Little Italy“ nennen, und damit sogar werben? In Europa hingegen eine ganz andere Skepsis herrscht? Liegt es an den Communities in Europa? Liegt es am Islam?

Was die USA betrifft, so bin ich wohl nicht kompetent genug, um hierzu eine Meinung zu äußern. Ich würde aber zu bedenken geben, dass es sich bei der US-amerikanischen Gesellschaft um eine typische Einwanderungsgesellschaft handelt, in der gänzlich andere Voraussetzungen herrschen als in Europa, das seit einem Jahrtausend keine nennenswerte, von außerhalb seines weiteren kulturellen Umfelds stammende Einwanderungsbewegung mehr erfahren hat. Ich lebe selbst in einem Land (Belgien), das stark durch verschiedenste Minderheiten geprägt ist, und kann meiner persönlichen Erfahrung nach nicht von einer generellen Skepsis gegenüber jeglicher Form identitätsstarker Parallelgesellschaften sprechen. Gerade die italienischen und spanischen Minderheiten, die schon seit mehreren Generationen einen bedeutenden Teil unserer Stadtbilder ausmachen, erfreuen sich einer allgemeinen Akzeptanz. Auch die nicht unbeträchtlichen vietnamesischen, chinesischen und kongolesischen Gruppen, die man selbst in kleineren Städten findet, unterliegen meines Wissens keinerlei Form von Ausgrenzung, ganz im Gegenteil. Wie Sie in Ihrer Frage andeuteten, liegt die Situation im Falle der islamischen Minderheiten aus verschiedenen Gründen etwas anders, wenn auch erst seit ungefähr einer Generation.

Sie sprechen von der Angst vor dem politischen, radikalen Islam?

Die zunehmend festzustellende gegenseitige Distanzierung liegt meines Erachtens in mehreren Faktoren begründet. Zum einen konstatieren wir ein überaus rasches, sowohl demographisch als auch migratorisch begründetes Anwachsen jener Bevölkerungsgruppen, aus dem seitens der Alteingesessenen notwendigerweise eine gewisse Angst vor der eigenen Verdrängung erwächst. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass die starke Vertretung jener Gruppen in den Städten und die Tendenz zur Ghettobildung Eindrücke entstehen lassen, die nur bedingt der gesamtstaatlichen Realität entsprechen,
auch wenn die langfristigen demographischen Projektionen wohl fraglos einen grundlegenden Wandel unserer Bevölkerungsstruktur nahelegen. Zum anderen speist sich die Angst auch durch die starke Sichtbarkeit jener Gruppen, sei es in Form von Kleidung, Sprache, Reinheitsgeboten, Recht, Sitte, Proselytismus oder religiösem Unbedingtheitsanspruch. Diese identitätsstiftenden Merkmale treffen ebenfalls auf viele andere größere Parallelgesellschaften zu, aber alle zusammen doch eher nicht. Und der wichtigste Faktor der von Ihnen erwähnten Skepsis: die Angst vor dem fundamentalistisch motivierten und zudem nicht nur gegen die eigene Gruppe, sondern vor allem gegen Andersgläubige gerichteten Terrorismus, der ebenfalls in diesem Maße von den anderen erwähnten Minderheiten nicht ausgeübt wird und eine Zuspitzung der Migrationsfrage auf die islamischen Gesellschaften provoziert.

Wie entstehen Parallelgesellschaften eigentlich? Welche soziologischen Faktoren spielen dabei eine Rolle?

Parallelgesellschaften entstehen meist entweder durch den Zuzug äußerer Gruppen, deren Integration in die Mehrheitsgesellschaft nur teilweise gelingt, oder durch die Abspaltung bereits anwesender Gruppen vom mehrheitlichen Konsens, wobei beide Phänomene sich durchaus gegenseitig verstärken können. Der Zuzug chinesischer oder schwarzafrikanischer Gruppen ist ein typisches Beispiel für den ersten Fall, die Verbreitung verschiedener religiöser Sekten oder politischer Untergrundbewegungen für den zweiten.

Für die Verbreitung islamischer Parallelgesellschaften spielen wohl beide Faktoren eine Rolle, oder?

Ja, das ist insoweit ein zusammengesetztes Phänomen, als ihre Entstehung und auch ihr gegenwärtiger verstärkter Aufschwung ganz klar Migrationsphänomenen zu verdanken sind – ursprünglich Arbeits-, später Flüchtlings- und Wirtschaftsmigration. Die Verhärtung und die Ausdehnung dieser Gruppen sind aber zunehmend auch einem gewissen Proselytismus geschuldet. Schon heute scheint der Übertritt zum Islam für autochthone Europäer (nicht nur in den französischen „banlieues“) aus verschiedensten Gründen eine wünschenswerte Perspektive zu sein, ganz analog zur bekannten Reislamisierung der ursprünglich ja oft gut integrierten und eher laizistisch eingestellten islamischen Gastarbeiter. Die Gründe hierfür sind vielschichtig. Vorhin erwähnten wir bereits den einer jeden Gruppe inhärenten Wunsch zur Selbsterhaltung. Hinzu kommt die Opposition gegen die Werte der jeweiligen Gesellschaftsmehrheit: Reiche grenzen sich ab, um ihre Privilegien nicht zu verlieren, Arme aus Ressentiment, Gläubige aus dem Wunsch nach Verwirklichung ihrer religiösen Vorgaben, Rationalisten aus Opposition gegenüber dem „Obskurantismus“; und die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Jeder Mensch gehört in einem oder anderem Maße einer Parallelgesellschaft an. Gefährlich wird dies freilich, sobald die Brücken zu anderen Gruppen fast alle gekappt werden und somit selbst kleine Krisen zum Bruch führen müssen. Im besten Fall kommt es dann zur gewaltsamen Auflösung der radikalisierten Gruppe, im schlimmsten Fall zur Desintegration der gesamten Gesellschaft im Bürgerkrieg. In Europa scheint die letzte Möglichkeit heute erheblich weniger ausgeschlossen als noch vor 20 Jahren.

Kann man Parallelgesellschaften wieder rückgängig machen?

Sicherlich, wenn denn der politische Wille besteht und weitgehend konsensfähig ist. Der Staat kann durchaus Rahmenbedingungen definieren, welche zur Zurückdrängung bzw. Zerschlagung zentraler identitätsstiftender Merkmale jener Parallelgesellschaften führen – indem er etwa bisherige Sonderrechte aufhebt oder allgemein verbindliche Verhaltensweisen festschreibt, sodass es mittelfristig zur erzwungenen Integration kommen muss, wenn die entsprechenden Sanktionen im Falle des Zuwiderhandelns hart genug ausfallen. So ließe sich an die Verpflichtung zum Spracherwerb, die Überwachung religiöser oder politischer Einrichtungen, strengere Regeln bei der Bürgerrechtsan- oder -aberkennung, eine flächendeckende und nicht nur auf die Großstädte konzentrierte Verteilung von Neuzuzügen, eine strikte Unterbindung jeglicher internen Rechtsprechung und vieles andere mehr denken. Freilich können diese Maßnahmen auch zu Verhärtungen und gewaltsamen Konflikten führen, welche dann so lange von der Gesamtgesellschaft ausgehalten werden müssen, bis das erstrebte Ziel erreicht ist. Wichtig bei einer solchen Zurückdrängung ist aber auch, dass die Mehrheitsgesellschaft ein annehmbares Vorbild liefert, um Integration und Assimilation nicht etwa als ungeliebte Verpflichtung, sondern vielmehr als positiv angestrebtes Ziel, ja sogar als Privileg erscheinen zu lassen. Dies ist natürlich die schwierigste Vorbedingung bei der Auflösung von verhärteten Parallelgesellschaften, da sie sowohl eine feste Identität seitens der Mehrheitsgesellschaft als auch eine grundlegende Bereitschaft zur Integrierung der Neuankömmlinge erfordert.

Welche historischen Beispiele für Parallelgesellschaften gibt es? Was kann man aus früheren Entwicklungen in diesem Bereich lernen und für aktuelle Migrationsbewegungen nutzen?

Als Althistoriker denke ich hier natürlich vor allem an die Verhältnisse in der klassischen Antike. Gerade das spätrepublikanische Rom des 1. Jahrhunderts v. Chr. erlebte eine ganz analoge Entwicklung zu der, die heute den Westen prägt. Rom (und viele italische Städte) wuchsen in recht kurzer Zeit zu kosmopolitischen Metropolen heran, in denen sich zahlreiche mal mehr, mal weniger miteinander interagierende Parallelgesellschaften bildeten. Auch hier kam es zu fremdenfeindlichen Ausschreitungen, Verteilungskämpfen und populistischen Ausweisungsgesetzen. Und auch hier bildete sich ein zunehmend verhärteter innerer Widerstand gegen eine von Materialismus, Universalismus, Technokratie, Werteverlust und wirtschaftlicher Ausbeutung geprägte Gesellschaft. Dies erklärt auch, wieso proportional zum Niedergang der alten römischen Bauernreligion orientalische Kulte und Sekten, die zunächst oft durch Zuwanderer aus dem Osten eingeführt worden waren, verstärkten Zulauf erhielten. Gerade das frühe Christentum des 1. Jh. n. Chr. ist ein Paradebeispiel für eine Parallelgesellschaft, die sich fast in jeder Hinsicht analog zum heutigen Islam verhielt, wenn auch die Martyriumssehnsucht sich nicht gegen Andersgläubige, sondern wesentlich gegen die eigene Person richtete. Erst dem Staat des Augustus sollte nach einer Zeit zerstörerischer Bürgerkriege die Wiederaufwertung traditioneller römischer Identität gelingen, welche fortan die Rahmenbedingungen für Integration und Assimilation schaffen sollte, indem eine komplexe Verbindung zwischen kultureller Romanisierung und gesellschaftlichem Aufstieg hergestellt wurde. Ein Erfolgsmodell, das über mehrere Jahrhunderte wesentlich zur Stabilität des römischen Reiches wie auch zur Herausbildung einer römischen „Leitkultur“ beitrug, die trotz regionaler Variationen und großer Toleranz eine reichsweite Einheit schuf, die freilich langfristig aufgrund der Widerstandskraft des Christentums eine tief greifende Mutation erleben sollte.

Trauen Sie sich, eine Prognose in diesem Bereich zu stellen? Wie werden sich Parallelgesellschaften künftig entwickeln, welche denkbaren Szenarien bzw. Dystopien gibt es?

Ich denke, kein übermäßig großes Risiko mit der Vermutung einzugehen, dass die ostasiatischen und wohl ebenfalls die meisten (christlichen) schwarzafrikanischen Minderheiten auch in den nächsten Jahrzehnten nur wenig Anlass zu einer gesamtgesellschaftlichen Besorgnis erwecken werden. Die gegenwärtige Debatte dreht sich nicht ohne Grund um die radikalisierten muslimischen Bevölkerungsgruppen. Folgt man obiger Analogie, so ist dem Islam eine ganz ähnliche Stellung zuzuweisen wie vor 2.000 Jahren dem frühen Christentum innerhalb des römischen Staates. Zunächst dürfen wir daher mit einem weiteren Anwachsen der islamischen Gemeinde rechnen, die sich neben natürlicher Vermehrung auch verstärkt durch Übertritte speisen wird, sodass schon in etwa zwei Generationen selbst in vorsichtigen Schätzungen Europas Bevölkerung zu einem Drittel muslimisch sein wird. Bedenkt man, dass Staatsschuld, Arbeitslosigkeit, Auslagerung, Ultraliberalismus, Bevölkerungsrückgang, Überalterung und explodierende Sozialbudgets bald unweigerlich in eine wirtschaftliche Dauerkrise und bitterste Verteilungskämpfe um die letzten Hilfsgelder münden werden, scheint ein unterschwelliger „Clash of Cultures“ mit bürgerkriegsähnlichen Zuständen zumindest in den Großstädten nicht unwahrscheinlich.

Welche möglichen Folgen hätte das für das Christentum in Europa?

Freilich dürfte in Analogie zum spätrömischen Heidentum in den nächsten Jahrzehnten auch das Christentum wieder aufleben und, wie in den USA, in einer eher oberflächlichen Weise zur Legitimationsbasis des neuen, populistisch autoritären Staatenwesens werden, welches sich parallel zum Prinzipat des Augustus als einziger Ausweg aus den zu erwartenden Krisen erheben dürfte. Die dauerhafte Koexistenz beider Religionen im Rahmen einer postdemokratischen europäischen Gesellschaft würde dann zum einen die Heranführung zumindest der islamischen Eliten an die Grund lagen des neuen Staats bewirken – ähnlich wie im Falle der Annäherung der frühen Christen an Rom. Zum anderen würde es zu einer unbewussten Anpassung der letzten Christen an den Geist des Islam kommen, die sich ja analog in der zunehmenden Angleichung des spätantiken Heidentums an christliche Formen zeigt. Ob es langfristig zu einem weitgehenden Aussterben des Christentums wie damals des spätantiken Heidentums oder des postsasanidischen Zoroastrismus kommen wird, oder vielmehr zu einem langfristigen Zusammenleben bei wachsender Annäherung – wie etwa im postklassischen China, wo der Buddhismus die ursprüngliche Volksreligion nicht gänzlich verdrängen konnte –, muss dahingestellt bleiben.

David Engels ist Professor für Römische Geschichte an der Freien Universität Brüssel (ULB). Er studierte Geschichte, Philosophie und Volkswirtschaft an der RWTH Aachen. In seinem viel diskutierten Buch „Auf dem Weg ins Imperium. Die Krise der Europäischen Union und der Untergang der römischen Republik“ (Berlin 2014) beschrieb er, worin er Parallelen zwischen der europäischen Zeitgeschichte und dem 1. Jh. v. Chr. sieht. 

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