09 Schule und Migration

„Wir müssen uns für die Emanzipation junger Mädchen und Buben einsetzen, und zwar konsequent“

Interview mit Düzen Tekkal

 

Düzen Tekkal betont, dass gut Deutsch zu sprechen nicht immer gelungene Integration bedeutet. Bildung allein schützt nicht vor Extremismus und Radikalisierung. Wichtiger als die Sprache ist ein werteorientierter Unterricht. Sprache muss immer die erste Prämisse sein, aber das allein ist nicht genug. Mädchen mit Migrationshintergrund müssen verschiedene Möglichkeiten und identitätsstiftende Maßnahmen gezeigt werden, die auch über Religion und Kultur hinausgehen.

Wie würden Sie eine Brennpunktschule definieren? Von welchen Faktoren machen Sie das abhängig?

Sogenannte Brennpunktschulen gibt es mittlerweile in einigen deutschen Großstädten. Beispielsweise würde ich Schulen dazu zählen, in denen es bereits in der Grundschule zu antisemitischen Übergriffen kommt. Oder Schulen, in denen mittlerweile Sicherheitspersonal für Recht und Ordnung sorgen muss. Und natürlich spielt es auch eine Rolle, wie viele Kinder es mit und ohne Migrationshintergrund an den jeweiligen Schulen gibt. Wenn hier bereits in den Schulen Segregation betrieben wird, haben wir schon verloren. Aber es ist auch wichtig, anzumerken, dass es nicht nur eine Frage der Herkunft, sondern auch eine soziale Frage ist. Denn ich kenne inzwischen auch bürgerliche Migrantenfamilien türkischer, kurdischer und arabischer Herkunft, die sich mit viel Mühe und Anstrengungen hochgearbeitet haben und nicht wollen, dass ihre Kinder in eine Brennpunktschule kommen. Hier kommt es primär nicht auf die Herkunft an, sondern auf Werte und Ansprüche. Und darauf, ob Menschen hier wirklich ankommen wollen.

Immer wieder erzählen Lehrer, vor allem Lehrerinnen, von Problemen mit Schülern mit Migrationshintergrund, die die Autorität der Lehrpersonen nicht akzeptieren wollen, sie beispielsweise nicht ernst nehmen oder ihnen nicht die Hand geben. Wie geht man seitens der Schule mit einem solchen Verhalten am besten um?

Mit Ehrlichkeit und Konsequenz. Ein Teil des Problems war in der Vergangenheit, dass man viel zu lange versucht hat, zu beschwichtigen und diese Probleme kleinzureden. Es hieß immer: „Diese Menschen kommen aus anderen Kulturkreisen. Wir müssen vorsichtig sein, dürfen sie nicht zu sehr unter Druck setzen etc.“ Aber in Brennpunktschulen kommt es nun einmal zu Konflikten. Es muss uns klar sein, dass Integration bereits in Schulen stattfindet und auch schon im Elternhaus beginnt. Auch bei Diskriminierungen wie religiösem Mobbing, Verbalattacken, Drohungen und Übergriffen auf Lehrer sowie Schüler müssen die Eltern miteingebunden werden. Die Kinder tragen hier nur bedingt Schuld. Man muss ihnen natürlich ihre Grenzen aufzeigen, aber auch ihre Familien genau unter die Lupe nehmen. Denn sie haben eine Verpflichtung gegenüber ihren Kindern. Und wenn in Schulklassen schon Enthauptungsvideos auf den Smartphones der Kinder die Runde machen, muss man doppelt hinschauen. Wobei man eigentlich schon viel früher beginnen müsste, etwa bei Drohungen in den sozialen Medien, in denen die Hemmschwelle niedriger ist. Bisher gab es ja kaum Konsequenzen. Und wenn es keine Konsequenzen gibt, ist es so, als hätte es nie stattgefunden. Dabei müsste man unverzüglich die Eltern einschalten, einen Besuch zu Hause abstatten und die gesamte Familie damit konfrontieren. Das würde Eindruck hinterlassen und etwas bewirken. Wir sind leider mit zahlreichen Migrationsversäumnissen konfrontiert, die unter anderem zur Folge haben, dass die Migranten, die endlich in Deutschland oder Österreich ankommen wollen, von den Konservativen unter Druck gesetzt werden. Sie werfen ihnen beispielsweise vor, dass sie Schweinefleisch essen oder sich beim Karneval als Discomädchen verkleiden. Wir müssen deutlich machen, dass wir mit diesen Werten nicht einverstanden sind, sonst wird es immer schlimmer. In den Klassen finden Religionskonflikte statt, die am Ende auch auf dem Schulhof ausgetragen werden. Ein Beispiel dafür sind Mädchen, die ein Kopftuch tragen müssen und automatisch sexualisiert werden. Lehrer erzählen mir, dass Mädchen, die früher ganz normal waren, verstört sind, seit sie ein Kopftuch tragen.

Aus dem Gesagten entnehme ich, dass Sie ein Kopftuchverbot in Kindergärten und Schulen befürworten?

Das ist für mich eine Selbstverständlichkeit. Durch das Tragen eines Kopftuchs wird ein Mensch zu einem Objekt degradiert. Meine Ansprechpartner sind in diesem Zusammenhang aber die Männer, Väter und Brüder, die dafür sorgen, dass Mädchen ein Kopftuch tragen – mit dem Kulturverständnis, das sie dazu zwingt. Daher müssen wir werteorientiert mit den muslimischen Verbänden und natürlich mit den Eltern dieser Mädchen reden. In Ländern wir dem Irak und dem Iran kämpfen Frauen dafür, sich zu befreien und kein Kopftuch mehr tragen müssen. Was machen wir? Wir verschleiern nicht nur, wir verhüllen unsere Kinder. Das ist mittelalterliches Denken, wir dürfen das Kindern nicht antun. Hinzu kommt, dass muslimische Mädchen untereinander angefeindet werden. Die mit Kopftuch werfen jenen ohne Kopftuch vor, nicht „rein“ zu sein. Solche Feindbilder führen zu Konflikten und können irgendwann auch zu Kriegen führen. Daher müssen wir viel konsequenter dagegen vorgehen als bisher.

Wie denn?

Ich bin mit meinem Projekt „Hawar macht Schule“ ständig in Schulen unterwegs, zuletzt habe ich gemeinsam mit der Konrad-Adenauer-Stiftung in Nordrhein-Westfalen vor knapp 1.000 Schülern gesprochen. Das war zwar ein Gymnasium, aber die Konflikte und Fragen sind auch hier längst angekommen. Wir besuchen aber vor allem Brennpunktschulen, gehen also dahin, wo es wehtut. Dabei stelle ich fest, dass Jugendliche nicht politikverdrossen, sondern wir jugendverdrossen sind. Wir lassen die Schüler in ihrer unsicheren, wackeligen Welt zurück. Gleichzeitig kommen sie aber durch das Internet an alle Informationen heran, haben viele Fragen zu Themen wie Gesellschaft, Religion, Krieg. Wir dürfen sie mit diesen Fragen nicht alleinlassen. Daher braucht es neue Unterrichtsformate, die beispielsweise den Antisemitismus, den Nahostkonflikt und das Phänomen der Radikalisierung thematisieren. So ein Fach gehört dringend in den Lehrplan. Eine Gesellschaft wie in Deutschland und Österreich, die religiös, kulturell und ethnisch mehr und mehr pluralistisch wird, verlangt nach einem großen gemeinsamen Nenner, der für die Politik ebenso gilt wie für die Gesellschaft und der über das Grundgesetz hinausgeht.

Was kann das sein – ein gemeinsamer Nenner, der über das Grundgesetz hinausgeht?

Das kann ein Wertekodex sein. Eine Art Kompass, der besagt, dass Männer und Frauen gleichwertig und gleichberechtigt sind, und den es wiederzufinden gilt. Wenn jemand seine Tochter nicht zum Schulausflug schickt, verstößt er damit nicht gegen das Grundgesetz, aber er ist auch nicht integriert. Es gibt zwar beherzte, engagierte Lehrer, aber ohne eine gewisse Law-and-Order-Politik können sie nichts ausrichten. Herzlichkeit ist gut, aber nicht genug. Es braucht mehr Härte. Nicht zuletzt deswegen, weil diese Menschen aus Ländern kommen, in denen sie es gewohnt sind, dass gewisse Dinge eingefordert werden.

Meinen Sie mit Härte, dass es bei integrationsunwilligen Menschen mehr Sanktionen geben müsste?

Natürlich. Damit wir uns richtig verstehen, Verbote sollten immer das letzte Mittel sein. Aber wenn es nicht anders geht, dann muss es halt einmal so weit gehen, dass Schüler aus den Schulklassen genommen werden und mehrere Wochen „schulfrei“ bekommen, um darüber nachzudenken, wo sie Fehler gemacht haben, wo sie zu weit gegangen sind und was man möglicherweise nicht wieder gutmachen kann. Hier muss klar sein: Nulltoleranz der Intoleranz. Wir müssen klarmachen, dass bei uns andere Regeln gelten. Dass die Vermittlung von Wissen über allem steht. Über der Kultur und ganz sicher über der Religion. Das muss ganz früh und ganz klar gesagt und auch durchgesetzt werden. Damit die Leute, die zu uns kommen wollen, wissen, was sie hier erwartet. Und wenn sie damit nicht einverstanden sind, in ein anderes Land gehen können. Wir müssen uns für die Emanzipation junger Mädchen und Buben einsetzen, und zwar konsequent. Wir dürfen keine Angst davor haben, uns einzumischen und möglicherweise etwas falsch zu machen. Denn das wird eiskalt gegen uns benutzt und die Konflikte nehmen zu. Ich kenne genug erwachsene Frauen, die das Kopftuch aus Gewohnheit tragen, im privaten Rahmen, das ist auch in Ordnung. Aber wenn damit ein Dominanzverhalten abgeleitet wird, wenn damit versucht wird, Politik zu machen, dann wird eine Grenze überschritten.

Weil Sie sagen, dass wir uns für die Emanzipation junger Mädchen einsetzen müssen. Wie fördert man Mädchen mit Migrationshintergrund am besten?

Indem man ihnen verschiedene Möglichkeiten zeigt. Und selbstverständlich auch Möglichkeiten und identitätsstiftende Maßnahmen über Religion und Kultur hinaus. Natürlich sind Religion und Herkunft auch ein Teil der Identität, aber bitte nicht nur und nicht als verhaltensbestimmendes Merkmal. Wenn es Alternativen gibt, nimmt ein Kind diese immer mit. Das haben wir in der Vergangenheit nicht ausreichend gemacht, haben die Mädchen alleingelassen und haben sie teilweise strengen Elternhäusern und teilweise auch muslimischen Verbänden ausgeliefert, die Indoktrination betreiben. Nicht alle und nicht jeder, aber es gibt diese Verbände. Die Folge sind Parallel- und Gegengesellschaften. Es ist uns nicht gelungen, diesen Menschen unsere Werte zu vermitteln. Und wenn man ihnen diese Werte nicht als Kind vermitteln kann, wird man das nie mehr können. Dann wird Religion immer über allem anderen stehen. Das Staatsverständnis wird abgeleitet von kultureller, religiöser Früherziehung. Wenn diese Erziehung nicht auf der Grundlage eines demokratischen Rechtsstaates erfolgt, der über religiösen Vorstellungen steht, können die erzogenen Kinder nicht zu Demokraten werden.

Können Sie mir ein Beispiel für eine alternative Möglichkeit geben, die man diesen Mädchen bieten könnte?

Natürlich. Meine Schwester betreut ein Sportprojekt, im Zuge dessen Mädchen aus Ländern wie Syrien, Iran, Afghanistan, der Türkei etc. Fußball spielen. Am Anfang gab es große Probleme mit den Familien. „Warum sollen unsere Mädchen Fußball spielen?“, lautete der Tenor. Als die Familien aber gesehen haben, dass immer mehr hochrangige Politiker kamen, um die Mädchen beim Spielen zu sehen, erkannten die Familien die Bedeutung dieses Projekts. Und plötzlich zeigten sie Wertschätzung gegenüber Mädchenfußball. Mittlerweile haben wir es sogar geschafft, vier dieser Mädchen an Fußballvereine zu vermitteln. Von solchen Möglichkeiten spreche ich, die wir schaffen müssen. Das ist unsere Verantwortung, wir dürfen nicht alles an die Migranten abschieben. Auch die Mehrheitsgesellschaft ist gefragt. Und natürlich die Politik, die sich die Frage stellen muss, wie es so weit kommen konnte. Denn Versäumnisse gab es viele. Zum Beispiel mit der Gastarbeitergeneration, der keinerlei Integrationsprogramme wie etwa Sprachkurse angeboten wurden. Bis 2004 gab es in Deutschland keine gewollte Integrationspolitik, wodurch die Entstehung von Parallelgesellschaften zugelassen wurde. Anstatt konsequent und entschlossen gegen sie vorzugehen, haben wir weggeschaut. Immer noch ist es oft so, dass Kritiker von gefährlichen Entwicklungen als Islamfeinde und Nestbeschmutzer denunziert werden, anstatt eine inhaltliche Debatte darüber zuzulassen.

Kommen wir zurück zu den Brennpunktschulen. Was halten Sie von Vorschlägen, dass in Schulen ausschließlich Deutsch gesprochen wird? Also auch in den Pausen und auf dem Schulhof.

Gut Deutsch zu sprechen bedeutet nicht immer gelungene Integration. Bildung allein schützt nicht vor Extremismus und Radikalisierung. Wichtiger als die Sprache ist ein werteorientierter Unterricht. Verstehen Sie mich nicht falsch, die Sprache ist das A und O und muss immer die erste Prämisse sein. Aber das allein ist nicht genug. Das weiß ich aus meiner eigenen Biografie. Ich habe im Kindergarten noch perfekt Deutsch gelernt. Der dritten und vierten Generation der Gastarbeiter fällt das hingegen nicht mehr so leicht, weil es im Kindergarten so viele Migranten auf einmal gibt. Dann haben wir schon nur aufgrund des Mengenverhältnisses die Frage im Raum stehen: Wer integriert hier eigentlich wen? Daher bin ich wie gesagt neben der Sprache auch für eine Vermittlung von Werten und Identifikation. Um Kindern beispielsweise zu zeigen, dass uns das Lesen, die Literatur etc. sehr wichtig sind und zu unserer Kultur gehören. Und dass in Deutschland nur Leute „fremdeln“, die kein Deutsch können und keine Ahnung von den Werten und der Lebensweise unserer Gesellschaft haben.

Wie wichtig ist Bildung für die Integration?

Bildung spielt eine zentrale Rolle und führt zu einer Form von Freiheit. Bildung kann dich emanzipieren, so gesehen ist Integration auch Emanzipation. Dabei sollten alle Kinder dieselben Chancen haben, und diese Chancen müssen wir ihnen ermöglichen. Das Bildungsangebot muss also universell gelten. Bildung kann im Übrigen auch identitätsstiftend sein. Wenn aber bereits Kinder anfangen, sich nur über Religion zu definieren, ist schon etwas schiefgelaufen. Das heißt nicht, dass Religion zwangsläufig negativ sein muss. Es wird nur dann zum Problem, wenn jemand sein Verhalten ausschließlich aus der Religion ableitet.

Sie haben eingangs den wachsenden Antisemitismus in Schulen erwähnt. Wie geht man am besten mit dieser konkreten Bedrohung um?

Die meisten muslimischen Zuwanderer kommen aus Ländern, in denen Juden Feindbilder sind. Es wäre also ungewöhnlich, wenn sie hier ein anderes Verhalten an den Tag legen würden. Ich warne zwar ausdrücklich davor, das Problem des Antisemitismus auf Zuwanderer zu beschränken, aber sie sind zu einem Sonderproblem geworden. Wenn Antisemitismus von einem Ausländer ausgeht, müssen wir das genauso ansprechen und – wie bei den Autochthonen – sagen dürfen, dass sie nicht nur Opfer, sondern auch Täter sind. Wenn ein jüdisches Mädchen in Deutschland oder Österreich in Gefahr ist, sind wir alle in Gefahr. Vor allem angesichts unserer Geschichte müssen wir hier sehr sensibel sein. Antisemitismus in Schulen ist eine Bankrotterklärung für uns. In Deutschland und Österreich darf kein jüdisches Leben in Gefahr sein. Und niemand darf Angst davor haben, eine Kippa zu tragen, um nicht stigmatisiert zu werden.

Düzen Tekkal ist Politologin und Expertin für die Themen Jesid/innen, Islamismus, Salafismus und Antisemitismus. Sie ist freie Journalistin, Filmemacherin, Kriegsberichterstatterin mit Schwerpunkt Syrien und Irak, Menschenrechtsaktivistin und Vorsitzende des Hilfsvereins HAWAR.help e.V. Tekkal ist Autorin von „Deutschland ist bedroht. Warum wir unsere Werte jetzt verteidigen müssen“.

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