10 Heimat und Identität
"Zugehörigkeit ist ein unentbehrlicher Stabilitätsfaktor für die gesamte Gesellschaft."
Interview mit Ursula Plassnik
Ursula Plassnik betont, dass in den modernen europäischen Gesellschaften Zugehörigkeit durch Akzeptanz der herrschenden Regeln einerseits und durch Anerkennung der Person andererseits entsteht. Diese Zugehörigkeit wird durch Information, Erziehung, Wissen und Bereitschaft, sich aktiv in die Gesellschaft einzubringen, gefördert.
Was bedeutet Heimat für Sie?
Heimat ist zugleich ein höchst intimer und ein sehr politischer, ja manchmal sogar politisierter Begriff. Jeder Mensch hat seinen ganz persönlichen Heimatbegriff. Und dennoch reden wir, als gäbe es eine allgemein verbindliche Vorstellung von Heimat. Man kann sich dem Thema entweder auf der höchstpersönlichen Ebene nähern oder aber verallgemeinernde Vermutungen anstellen. Diesen Zwiespalt kann man nicht wirklich auflösen. Im Grunde geht es oft eher um ein Sehnsuchtsgebilde als um einen real existierenden Ort. Vieles fließt ein, Erinnerungen, Hoffnungen, Wunschvorstellungen. Für die einen ist Heimat primär von Sinneseindrücken bestimmt, es geht um Landschaft, Licht, Klang, Geruch, Geschmack. Wir Menschen sind offenkundig bis zu einem gewissen Grad territorial geprägte Lebewesen. Für andere hat Heimat zu tun mit Wurzeln, mit Vertrautheit und Zugehörigkeit, dem Gefühl des Geborgenseins. Heimat kann auch ein Mensch sein, mit dem man in besonderer Weise verbunden ist. Die Großmutter, der Vater, der Bruder, die Tochter, die Frau. Oder eine Ordnung, Werte, Regeln, „Haltegriffe“ in einer sich rasch verändernden Welt. Heimat kann sich im Laufe des Lebens ändern, das zeigen die Geschichten von Auswanderern wie Zuwanderern.
Glauben Sie, dass eine neue Heimat eine alte ersetzen kann?
Menschen machen heute zunehmend die Erfahrung, dass es mehrere Heimaten gibt. Dass eine neue Heimat die alte überlagern und sogar ersetzen kann. Eine neue Heimat zu finden, bedeutet ja nicht automatisch, die alte zu vergessen oder gering zu schätzen. Es geht nicht um „Verrat“. Meine Heimaten sind Kärnten, Österreich und Europa. Heimisch zu werden braucht Zeit, das geht nicht über Nacht, selbst wenn man freiwillig die alte Heimat hinter sich gelassen hat. Kinder haben am meisten Heimweh, sie leiden am stärksten unter Veränderung und mangelnder Stabilität, am Verlust ihrer Spielgefährten und der vertrauten Umgebung. Aber Kinder stehen Neuem auch aufgeschlossen gegenüber und haben bemerkenswerte Fähigkeiten, sich rasch in eine neue Umgebung zu integrieren. Zugehörigkeit ist ein unentbehrlicher Stabilitätsfaktor für die Gesamtgesellschaft. Nur wer sich heimisch fühlt, wird für die Gemeinschaft und ihr Funktionieren auch Verantwortung übernehmen. Sich heimisch fühlen ist die emotionale Komponente der erfolgreichen Landung in einem neuen Land.
Warum ist der Begriff Heimat derzeit so präsent?
Heimat ist ein Klassiker, der zum Menschsein gehört. Schon die ältesten Geschichten der Menschheit kreisen um diesen Begriff, denken Sie an Odysseus. Jeder Mensch erlebt irgendwann eine Art „existentielles Unbehaustsein“ und sehnt sich nach einem Ort der Ruhe und der Zugehörigkeit. Immer und überall gab es solche, die – freiwillig oder unfreiwillig – weggehen, und solche, die dableiben. Zwischen ihnen herrscht eine nicht leicht überwindbare Spannung. Dann gibt es noch diejenigen, die eine Zeit lang weggehen und dann wieder zurückkommen. Und diejenigen, die weggehen und auf Dauer wegbleiben. Motive ändern sich auch über die Zeit. Krieg, Vertreibung, Armut, Unfreiheit und mangelnde Zukunftschancen gehören weltweit immer schon zu den Beweggründen, die Heimat zu verlassen. Aber auch Wissensdurst, Abenteuerlust, Entdeckergeist oder die Liebe zu einem anderen Menschen können von der Heimat wegführen. Heimat kann schließlich auch verloren gehen, wenn jemandem ein politisches System unerträglich wird, etwa in Diktaturen. Heimat kann sich aber auch neu entwickeln, kann aufgebaut werden um einen neuen Lebensmittelpunkt herum. In diesem Verständnis ist Heimat „Baumeisterarbeit“. Heimischwerden kann weder verordnet noch erzwungen werden.
Beobachten Sie in der Gesellschaft eine gewisse Sorge vor Heimatverlust als Folge von Digitalisierung, Globalisierung und Migration?
In der Sorge vor Heimatverlust kommt oft ein Gefühl der Überforderung angesichts der Gegebenheiten der modernen Welt zum Ausdruck. Je sicherer wir selbst leben, desto mehr Angst haben viele vor Kontrollverlust, individuell und kollektiv. Nachvollziehbare Sorgen sind ernst zu nehmen, darüber sind wir uns einig. Nur so verhindern wir, dass aus Sorgen Ängste werden, die sich von der Realität loslösen und leicht instrumentalisieren lassen. Wo uns das passt, nutzen wir alle gern die Früchte der Globalisierung, etwa beim Essen, beim Reisen, aber auch bei mehr Auswahl an Gütern und billigeren Preisen.
Gibt es Ihrer Meinung nach so etwas wie eine gemeinsame kulturelle Identität?
Eine gemeinsame kulturelle Identität besteht aus vielen Einzelelementen, dafür gibt es keinen abschließenden Kriterienkatalog. Gemeinsame kulturelle Identität schafft die Möglichkeit von Zugehörigkeit und Anerkennung, ohne dadurch andere Menschen auszuschließen. Die Verbundenheit untereinander besteht in einer bestimmten Art, Musik zu machen, zu sprechen, sich zu kleiden, einander zu begegnen, Gastfreundschaft zu üben, Hilfe zu leisten. Erkennbarkeit ist Teil von Zugehörigkeit, früher hatten in meiner Heimat Kärnten die Kleider der Frauen unterschiedliche Muster. Jeder wusste sofort, ob eine Frau aus dem Mölltal oder aus dem Gurktal kam. Ähnlich ist es heute noch mit der Sprachfärbung, sogar mit einzelnen Wörtern und Ausdrücken. Politisch problematisch wird gemeinsame kulturelle Identität, wenn sie andere ausschließt, als Druckmittel eingesetzt wird, sich missionarisch verengt oder sich gar über Recht und Gesetz stellt. Abschottung verhindert Integration.
Wie kann in diesem Zusammenhang ein gemeinsames Narrativ entstehen, mit dem sich die Mitglieder einer Gesellschaft identifizieren?
Ein Narrativ, das oft unterschätzt wird, ist das Recht. Ich bin von meiner Ausbildung her Juristin. Unsere Rechtsordnung gibt Auskunft darüber, wie wir miteinander leben wollen. Das kann man durchaus als gemeinsames Narrativ sehen. Man muss nicht erwarten, dass jeder sich mit jeder Rechtsvorschrift auch innerlich voll identifiziert, es genügt, wenn er sie einhält. Wie in der Straßenverkehrsordnung. Es hat mich schon im Studium fasziniert, wie sich eine Gesellschaft in ihrer Rechtsordnung ein Gerüst gibt, das gleichzeitig fest und geschmeidig ist. Fest, weil es verbindliche Regeln für alle an einem bestimmten Ort Lebenden schafft, niemand darf über dem Recht stehen. Geschmeidig, weil das Recht interpretiert, angepasst, sogar verändert werden kann. Gesetze sind nicht in Stein gemeißelt, sondern atmen mit der dynamischen Realität einer Gesellschaft. Vor 300 Jahren waren beispielsweise Hexenprozesse rechtlich vorgesehen. Heute können wir das gar nicht mehr nachvollziehen. Die Gleichheit von Mann und Frau existiert auch im Recht noch nicht allzu lange. Gewalt in der Familie war vor 50 Jahren ein Kavaliersdelikt. Heute ist klar: Zwangsverheiratung geht in Europa nicht, sogenannte Ehrenmorde sind schlicht und einfach Morde, weibliche Genitalverstümmelung ist strafrechtlich verbotene schwere Körperverletzung, Bigamie ist nicht zulässig. Dazu kommen noch Umgangsregeln, die so selbstverständlich sind, dass sie meist gar nicht in Gesetzesform festgehalten werden müssen. Wir schauen einander ins Gesicht, Frauen und Männer geben einander die Hand, Mädchen haben denselben Zugang zu Bildung wie Buben, inklusive Schwimmunterricht. Keine Religion steht über dem Staat. Der Staat und er allein hat das Gewaltmonopol. Diese Grundlagen dürfen nicht durch Parallelordnungen infrage gestellt, aufgeweicht oder untergraben werden.
Weil Sie so viele Beispiele aus der Vergangenheit genannt haben: Welche Bedeutung haben denn die Vergangenheit und die Zukunft für eine gemeinsame Identität?
Ich bin für Achtsamkeit im Umgang mit der Forderung nach einer gemeinsamen Identität. In meiner Weltsicht ist das tendenziell ein zur Verengung neigender, also einschränkender Begriff. Erst recht, wenn der Bezugsrahmen die Vergangenheit ist. Unsere jeweiligen Vergangenheiten sind oft genug von Feindbildern und schrecklichen Erfahrungen geprägt, an deren Bewältigung wir mühsam arbeiten, denken Sie nur an den Holocaust. Syrer, Iraker, Afghanen haben meist in ihren Ländern auch Bürgerkrieg erlebt, das Morden unter Nachbarn, Gewalt, Erpressung, Verrat, Vertreibung, Demütigung. Sie teilen zwar eine „gemeinsame“ Vergangenheit, haben aber als Opfer oder Täter eine diametral entgegengesetzte Sichtweise darauf. Gesellschaften sind dann am erfolgreichsten, wenn sie nicht versteinern und sich nicht an Traditionen festkrallen, sondern wenn sie Neues zulassen, offen bleiben für Anpassung, Veränderung, Entwicklung. Leben ist Bewegung, Erstarrung der Tod. Als Frau bin ich froh, im 21. Jahrhundert lernen, leben und arbeiten zu dürfen. Meine Großmutter, eine Bergbauerntochter und Alleinerzieherin, hatte keinen Zugang zu höherer Bildung, keine Berufschancen, keine Verdienstmöglichkeiten, keine Aufstiegsmöglichkeiten.
Und was die Zukunft angeht …
Zukunft mobilisiert positive Energien. Ein gemeinsames Zukunftsprojekt eignet sich daher deutlich besser als die Vergangenheit, um Verbundenheit zu schaffen. Etwa das Vorhaben, miteinander in Freiheit und Gleichberechtigung zu leben. In Wien hat sich bei mir einmal ein aus der Türkei stammender Taxifahrer über den islamischen Religionsunterricht in der Schule seiner Tochter beschwert: Er sei nach Österreich gekommen und arbeite hart, damit seine Tochter immer einen Minirock tragen könne. Und nicht, damit sie in einer österreichischen Schule eine sogenannte muslimische Kleiderordnung empfohlen bekomme. Man darf sich sehr wohl auch von den kulturellen Vorstellungen seiner Vergangenheit verabschieden, gemeinsame Vergangenheit darf nicht zum Gefängnis werden.
Im Kontext von Zugehörigkeit, Identifikation und Heimat ist immer auch wieder von Vertrauen in einer Gesellschaft die Rede. Was bedeutet Heterogenität für das Vertrauen in einer Gesellschaft?
Berechenbarkeit, also das Gegenteil von Willkür, begründet Vertrauen. Jeder kann vorhersehen, an welche Regeln sich die anderen halten müssen. Und darf darauf vertrauen, dass bei Zuwiderhandeln Abhilfe geschaffen wird von der Gemeinschaft, bei uns also vom Staat. Unser Menschenbild beruht auf dem ersten Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: Jeder Mensch ist frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Nur wenn ich darauf vertrauen kann, kann ich mich als Mensch in Sicherheit voll entfalten. Für dieses Menschenbild tragen wir alle Verantwortung. Es stärkt eine Gesellschaft, wenn wir alle uns dieser Verantwortung bewusst sind. Schärfen wir also unseren Verantwortungssinn.
Sie haben vorhin die Bedeutung von Zugehörigkeit erwähnt. Wie entsteht denn Zugehörigkeit?
Die Sehnsucht, dazuzugehören, ist ein uraltes Leitmotiv. Jeder Mensch will sich angenommen fühlen, ohne Vorbehalte oder Bedingungen. Zugehörigkeit ist aber kein Dauerzustand, vom Kindergarten bis zum Seniorenheim zweifeln wir immer wieder, ob wir schon wirklich „so richtig dazugehören“. In unseren modernen europäischen Gesellschaften entsteht Zugehörigkeit durch Akzeptanz der hier herrschenden Regeln auf der einen Seite und durch Anerkennung der Person auf der anderen. Gefördert wird Zugehörigkeit durch Information, Erziehung, Wissen und die Bereitschaft, sich aktiv einzubringen in diese Gesellschaft.
Und wie wird sie behindert?
Durch den Versuch, andere Regeln zu importieren und durchzusetzen. Parallelordnungen haben nichts mit Toleranz zu tun, sondern führen zu Abschottung. Zugehörigwerden ist ein Vorgang, der auch partnerschaftlicher Unterstützung von der Aufnahmegesellschaft bedarf. Grundvoraussetzung hierfür ist die Begegnung. Integration gelingt am besten auf Augenhöhe, in gegenseitigem Respekt. Das gilt für Schule, Gemeinde und Arbeitsplatz. Aber auch beim Sport, im Freiwilligen-Engagement, beim Musizieren, beim Lernen. Etwas miteinander machen, miteinander ein Ziel verfolgen. Aufeinander zugehen ist dabei immer noch die erfolgversprechendste Methode. Wer hingegen Vorurteile schürt oder Pauschalurteile ventiliert, der behindert Integrationsarbeit.
Wie viel Zugehörigkeit und Identifikation mit der Aufnahmegesellschaft bzw. ihrer Lebensweise, ihren Werten und ihrer Kultur ist für die Integration von Zuwanderern und Flüchtlingen zwingend notwendig?
Ich komme zurück zum Recht, dem Lebensweise, Kultur und Werte unterzuordnen sind. Zugehörigkeit entsteht über die Zeit, das ist ein Prozess, der nicht von heute auf morgen und nicht auf Knopfdruck passiert. Das Recht hingegen gilt für alle vom Anfang an, da gibt es keinen Raum für Unsicherheit. Solidarisches Zusammenleben funktioniert mittel- und langfristig nur als Geben und Nehmen, auch jenseits staatlicher Leistungen. Wer dazugehören will, muss auch in zumutbarer Weise beitragen und mittun. Sich an gemeinsamen Aufgaben beteiligen, Schwächeren helfen, sich ehrenamtlich engagieren, gemeinsam kochen, andere zu den eigenen Festen und Anlässen einladen. Der Fantasie sind hier keine Grenzen gesetzt, Menschen finden immer wieder erstaunliche Wege, das Prinzip der Gegenseitigkeit zum Ausdruck zu bringen.
Was konkret kann der Staat tun, um das Zugehörigkeitsgefühl von Migranten zu fördern?
Zwischen Zuwanderern im Arbeitsmarkt, Asylwerbern und anerkannten Flüchtlingen gibt es in der Sache und dem Recht nach aus guten Gründen Unterschiede. Am wichtigsten erscheint mir, für alle die Regeln klarzustellen, die bei uns gelten. Was wir von denjenigen erwarten, die vorübergehend oder auf Dauer bei uns bleiben wollen. Was wir als Aufnahmegesellschaft unsererseits beizutragen bereit sind. „Das geht – das geht nicht.“ Das ist in der Realität in den allermeisten Fällen problemlos. Österreich hat in der Vergangenheit eine tragfähige Aufnahmekultur geschaffen, wenn wir an die Flüchtlings- und Migrationswellen aus den Nachbarländern und -regionen denken. Jetzt kommen die Menschen vermehrt entweder aus ärmeren EU-Ländern oder von weit her. Die aktuelle Herausforderung ist also die Entwicklung einer zeitgemäßen Zuwanderungskultur auf der Grundlage des Rechts. Dazu gehört zunächst, dass wir klären, wer unter welchen Bedingungen hierbleiben kann. Und dann, wer wann welche Ansprüche und Verpflichtungen hat, auch in welchem Ausmaß und unter welchen Bedingungen Sozialleistungen gebühren. Hier können Einschleifregelungen helfen, Fristen, Zielsetzungen, Nachweise der Integrationsbereitschaft über einen vernünftigen Zeitraum hinweg. Auch im europäischen Rahmen haben wir manches neu zu denken und zu definieren. Da muss klug und nachhaltig differenziert werden. Das ist zwar in der Praxis alles andere als einfach, aber unerlässlich, um das Vertrauen in Staat und Politik zu erhalten.
Dabei sind Konflikte wohl unvermeidlich. Wie sollte die Politik mit der Vielfalt an Identitäten und den Konflikten umgehen, die sich daraus ergeben?
Unsere Gesellschaften haben über die Jahrhunderte viel Erfahrung gesammelt im Umgang mit Vielfalt. Und wir lernen laufend dazu. Integration braucht einen pragmatischen Zugang, kein Spiel mit Illusionen. Wir wissen, dass Respekt füreinander keine Einbahnstraße ist. Gelingende Integration braucht die Einhaltung des Wertekanons der Aufnahmegesellschaft, festgeschrieben in der Rechtsordnung. Was gar nicht geht, ist Rechtsbruch unter Berufung auf eine andere kulturelle Identität. Mich hat wirklich erschüttert, dass ein junger Afghane kürzlich in Wien seine Schwester mit 28 Messerstichen umgebracht hat, weil sie aus seiner Sicht die Ehre der Familie missachtet hatte. Das ist Mord und nichts als Mord. Ich sehe in der Aufklärung über unsere Regeln noch viel Potenzial, wir müssen dabei auf allen operativen Ebenen gezielter und rascher handeln.
Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe dafür, dass sich Menschen mit einem Land und seiner Kultur bzw. Lebensweise nicht identifizieren, obwohl sie seit Jahrzehnten in diesem Land leben?
Dafür gibt es wohl viele Gründe, je nach Einzelfall. Heimischwerden funktioniert nicht von selbst. Der Zwischenraum zwischen der alten und der neuen Zugehörigkeit ist für manche Menschen schwer überbrückbar. Oft überlappen sich auch die Zugehörigkeiten und irgendwann brechen die darunter liegenden Spannungen und Widersprüche offen auf. Da hilft nur Hinhören, verstehen lernen und aufeinander zugehen. Überlappende Zugehörigkeiten und Mehrfach-Identitäten tun eben manchmal weh, dem Betroffenen, aber auch dem Umfeld. Gerade bei jungen Menschen auf der Suche nach der eigenen Identität besteht die Gefahr, die eigenen Wurzeln zu romantisieren. Wer nie tatsächlich in Unfreiheit gelebt hat, kann sich vielleicht schwer vorstellen, was das für das eigene Leben bedeutet. Da wäre es gut, eingebunden zu sein in stabilisierende Netzwerke, Nachbarschaft, Schulen, Sportklubs, Vereine. Und orientierungsgebende Menschen an der Seite zu haben, die Vertrauen stiften und geduldig mit Verwirrungen umzugehen verstehen.
Und wie ist es umgekehrt zu erklären, dass sich Menschen mit Ländern, Kulturen und Gepflogenheiten identifizieren, die tausende Kilometer entfernt sind?
Nähe ist nicht immer leicht auszuhalten, auch Freiheit nicht. Beides verlangt ein hohes Maß an Selbstbestimmungsfreude. Wer Schwierigkeiten hat, seinen Platz zu finden, träumt leichter von Zugehörigkeiten in der Ferne, riskiert, sich einzuigeln in haltlosen Versprechen oder Verlockungen. Viele Zuwanderer der zweiten oder dritten Generation kennen das Herkunftsland ihrer Eltern oder Großeltern nur aus dem Urlaub und aus verklärenden Erzählungen über die Vergangenheit. Ein Leben dort kann im Rückspiegel schon einfacher und glücklicher wirken. Der „reality check“, die Konfrontation mit der aktuellen Wirklichkeit, endet aber meist recht brutal. Die Suche nach den eigenen Wurzeln, nach Zugehörigkeit und Heimat macht Menschen immer wieder verführbar und verletzlich, das ist nicht neu. Auch hier braucht es klare Regeln, Geduld und Dialog.
Ursula Plassnik war von 2004-2008 österreichische Außen- und Europaministerin. Nach ihrer Regierungstätigkeit war sie Nationalratsabgeordnete und Sonderbeauftragte für internationale Frauenfragen des österreichischen Außenministeriums. Sie war unter anderem Botschafterin in Frankreich, Monaco und Ständige Vertreterin Österreichs bei der UNESCO. Derzeit ist sie österreichische Botschafterin in der Schweiz. Sie ist Absolventin des Collège d‘Europe in Brügge, an dem sie eine der renommiertesten Ausbildungen für Diplomaten erhielt.