09 Schule und Migration
„Zur sozialen Integration zählen für mich die Übernahme von Wertehaltungen und eine Identifikation mit dem Land“
Interview mit Andrea Walach
Andrea Walach betont, dass der Einfluss der Familie für ein Kind prägend ist, weil nicht nur der Schulbesuch die Bildungschancen determiniert. Wenn Eltern den Schulbesuch der Kinder nicht fördern bzw. verhindern, müssen Sanktionen für diese folgen. Je gebildeter ein/e Zuwander/in ist, desto leicht wird ihm/ihr die Integration gelingen.
Viele Kinder mit nichtdeutscher Muttersprache können nicht ausreichend Deutsch sprechen, wenn sie eingeschult werden. Eine beachtliche Anzahl von Jugendlichen kann zudem nach dem Pflichtschulabschluss nicht ordentlich lesen und schreiben. Wie kann man das verhindern?
Bei Vorschulkindern könnte beispielsweise rechtzeitig eine Sprachstandserhebung durchgeführt werden, damit Defizite erkannt werden. Dringend notwendig ist auch die Behebung dieser Defizite durch gezielte Sprachförderung. Allerdings muss auch den Eltern klargemacht werden, dass ihre Kinder schon mit einem Nachteil starten, wenn sie nicht (auch) deutschsprachig aufwachsen. Das Lesen deutschsprachiger Kinderbücher sollte zum familiären Alltag gehören, dadurch wird das Leseinteresse geweckt. Diese Kinder können dann als Schulkinder profitieren. Bleibt das Vorlesen im Kleinkindalter aus, müssen die Kinder grundlegende Sprachkenntnisse später mühevoll nachholen, und dafür reicht die Schulzeit oft nicht aus. Deshalb haben wir viele Kinder, die am Ende der Pflichtschule nicht sinnerfassend lesen können.
Was halten Sie von eigenen Schulklassen für Kinder mit nichtdeutscher Muttersprache, damit sie gezielt gefördert werden und schneller Deutsch lernen, um in gewöhnliche Klassen integriert zu werden? Oder ist es besser, von Anfang an auf eine Durchmischung zu achten?
Eine Durchmischung, in der die Zahl der nicht Deutsch sprechenden Kinder so gering wie möglich ist – also ein bis zwei pro Klasse –, halte ich für optimal. Das geht sich in Wien aber zahlenmäßig nicht aus, weil schon rund 50 Prozent der schulpflichtigen Kinder eine andere Muttersprache als Deutsch haben. In diesem Fall halte ich die Bildung von „Deutschlernklassen“ für besonders wertvoll, weil hier gewährleistet werden kann, dass die Kinder gleich „richtig“ Deutsch lernen. Deutsch zu lernen von Schulkollegen, die selber nicht Deutsch können, ist kontraproduktiv.
In Österreich und Deutschland gilt nach wie vor: je höher der Bildungsabschluss der Eltern, desto besser die Bildungschancen der Kinder. Was können die Schulen hier tun?
Der Einfluss der Familie ist für das Kind normalerweise prägend, weil nicht nur der Schulbesuch die Bildungschancen determiniert. Es zählt vor allem auch die Gestaltung der Freizeit, wie etwa Museumsbesuche, Ausstellungen, Workshops, Lesen, Sportvereine, das Erlernen von Instrumenten etc. Obwohl viele genannte Möglichkeiten kostenlos sind, trifft man bei solchen Veranstaltungen selten Familien mit geringem Bildungsniveau an. Die Vorbildwirkung der Eltern spielt hier eine wesentliche Rolle und kann durch die Schule nur mäßig erweitert werden. An unserem Standort versuchen wir den Kindern durch einen wöchentlichen Lehrausgang diese Angebote näherzubringen, und die Kinder lieben dieses sogenannte dislozierte Lernen.
Wie viel Druck bzw. Strafe vonseiten der Schulen ist bei der Bildung von Kindern und Jugendlichen erlaubt und sogar erforderlich? Bei Kindern etwa, deren Eltern den Schwimmunterricht nicht erlauben oder sie nicht auf Ausflüge mitschicken. Oder sie beim Schulschwänzen fördern, indem sie ihre Kinder aus Gleichgültigkeit oder Ignoranz nicht sanktionieren.
Mein Grundsatz lautet: Alles, was für die Kinder gut ist, muss möglich sein. Wenn Eltern beispielsweise den Schulbesuch ihrer Kinder nicht fördern oder sogar behindern, müssen Sanktionen für die Eltern folgen – einfach, weil sie gegen ein Gesetz verstoßen. Ebenso verhält es sich mit der Teilnahme am Schwimmunterricht und dergleichen. Schwimmen ist im Lehrplan verankert und somit Teil des Unterrichts. Auch Ausflüge sind dislozierter Unterricht und verpflichtend. Verständnisvolle und respektvolle Gespräche mit den Eltern helfen oft, die Ängste der Eltern nachvollziehen zu können, aber wir müssen auch gleichzeitig auf der Teilnahme der Kinder bestehen, weil wir Fürsprecher der Kinder sind. Manchmal sind wir aber trotzdem auf verlorenem Posten, weil die Einsicht und das Verständnis bei den Eltern fehlen.
Wie argumentieren denn die Eltern ihre, wie Sie sagen, mangelnde Einsicht und ihr mangelndes Verständnis?
Vorgeschoben wird oft die Angst, den Kindern könnte etwas zustoßen. Der Grundstein für Bildung wird im familiären Umfeld gelegt und kann von der Schule als Institution gut gefördert und weiterentwickelt werden. Wenn Eltern allerdings ihre Kinder in ihrer Entwicklung behindern, wird auch der Bildungserfolg nur mäßig ausfallen.
Sind Sie eine Befürworterin oder Kritikerin des klassischen Notensystems in Schulen?
Das klassische Notensystem mit fünf Noten halte ich für optimal, weil es klar und eindeutig ist, eine lange Tradition in Österreich hat und auch für alle Lehrbetriebe und Firmen nachvollziehbar ist. Eine Unterteilung von „vertiefend“ und „grundlegend“ ist bis zum heutigen Zeitpunkt nicht in allen Firmen bekannt und kann leider in manchen Fällen zum Nachteil der Kinder gereichen. Zudem sind die zur Beurteilung verwendeten Noten immer Gesamtnoten. Sowohl bei Schularbeiten als auch bei Zeugnisnoten müssen die Lehrer den Schülern und Eltern vorher bekannt geben, wie genau sich die Note zusammensetzt. Auch Bemühen, Leistungszuwachs und Fleiß werden miteinbezogen. Folglich ist die Beurteilung mit fünf Noten auch nachvollziehbar.
Was sind Ihrer Meinung nach generell die größten Baustellen im österreichischen Schulsystem? Oder anders gefragt: Wie sollte die (Pflicht-)Schule der Zukunft aussehen?
Die Schule der Zukunft? Ich wage zu behaupten, diese hat schon in der unserer NMS durch das Lernmodell 44 Einzug gehalten. Zwei wichtige Grundsätze sind: Bildung ist nicht das Befüllen von Fässern, sondern das Entzünden von Flammen. Und Lernen orientiert sich am Kind. Wir arbeiten in den Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch in homogenen Kleingruppen statt mit Teamteaching, Wir lernen dort, wo sich die besten Möglichkeiten bieten, also beispielsweise im Wald oder im Museum. Wir fördern Interessen und Begabungen. Wir lernen zu übergeordneten Themen, die die Kinder selbst präsentieren. Bei all dem muss das Kind im Fokus sein.
Und wo sehen Sie die größten Baustellen?
Das größte Problem in Bezug auf Integration im Kontext von Schule ist die mangelnde Möglichkeit der Kommunikation. Eltern sprechen und verstehen nicht Deutsch, sie kennen das österreichische Schulsystem nicht, sie kommen nicht zu Elternabenden, negieren Vorladungen, verstehen nicht die Wichtigkeit von Bildung, weil sie selbst oft Analphabeten sind, unterstützen ihre Kinder nicht, wenn es um Fragen der Bildung geht. Wir brauchen dringend Schulsozialarbeiter, damit die Kinder Unterstützung finden. Schon vor langer Zeit haben die Lehrerinnen und Lehrer diese Aufgaben übernommen – sie organisieren die Kinder im Tagesablauf, begleiten sie zu Vorstellungsgesprächen, organisieren Lernhilfe etc. Die Lehrer würden aber gerne ihren Bildungsauftrag wahrnehmen und unterrichten, dafür sind sie auch ausgebildet. Wenn so viel Zeit vonseiten der Lehrer für Sozialisation und Organisation aufgewendet werden muss, bleibt der Bildungsauftrag auf der Strecke. Dann muss man sich nicht wundern, wenn die Ergebnisse der BIST (Bildungsstandards, Anm.) so sind, wie sie sind.
Um beim Thema zu bleiben: Welche Rolle spielt Bildung bei der Integration von Zuwanderern?
Je gebildeter ein Zuwanderer ist, umso leichter wird ihm die Integration gelingen und umso mehr Strategien wird er entwickeln können, sein Ziel zu erreichen. Bildung ist auf dem Arbeitsmarkt genauso gefragt wie im höflichen und respektvollen Umgang mit Menschen.
Unterscheiden Sie persönlich verschiedene Formen von Integration?
Ja, ich unterscheide zwischen sozialer und kultureller Integration. Zur sozialen Integration zählen für mich die Übernahme von Wertehaltungen und eine Identifikation mit dem Land. Diese Verinnerlichung hilft mir vermutlich auch auf dem Arbeitsmarkt. Denn damit ich auf dem Arbeitsmarkt gebraucht werde, muss ich über ein gewisses Maß an Bildung verfügen. Zur kulturellen Integration zählen der Erwerb der Sprache sowie Wissen und Fähigkeiten – also wiederum Bildung.
Welche Erfahrungen haben Sie persönlich mit der Integration durch Bildung gemacht? Fallen Ihnen Beispiele ein?
Natürlich. Allein aus unserer Schule kann ich zahlreiche Schüler und Schülerinnen, die mittlerweile Jugendliche oder Erwachsene sind, nennen, die durch rasche Integration und Bildung ein eigenständiges Leben führen können. Kinder, die zu uns als Analphabeten gekommen sind, jetzt eine gute Arbeitsstelle haben; ehemalige Schüler und Schülerinnen, die jetzt an der Universität Wien studieren. In all diesen Fällen waren aber der eigene Antrieb und das eigene Bemühen von großer Bedeutung. Denn: „Willst du Großes erreichen, musst du Großes leisten.“
Immer wieder erzählen Lehrer, vor allem Lehrerinnen, von Problemen mit Schülern mit Migrationshintergrund, die die Autorität der Lehrpersonen nicht akzeptieren wollen, sie beispielsweise nicht ernst nehmen oder ihnen nicht die Hand geben. Wie geht man seitens der Schule mit einem solchen Verhalten am besten um?
Je nachdem, wie Kinder von ihren Eltern erzogen wurden, kann ich all die angesprochenen Probleme und Attacken leider nur bestätigen. Eine Entwicklung, die auf keinen Fall gutgeheißen werden kann und sofort bei Auftreten behandelt und sanktioniert werden muss. Zuwanderer bzw. Flüchtlinge haben ja zumeist ihr Heimatland verlassen, weil es dort aggressiv, gesetzlos, kriegerisch und gewalttätig zugeht. Genau vor diesem Verhalten sind sie geflüchtet. Es ist deshalb überhaupt nicht nachvollziehbar, aggressive Handlungen im Zuwandererland zu wiederholen. Männer, die Frauen die Hand nicht geben; Frauen, die Männern die Hand nicht geben dürfen; Burschen, die ihre Lehrerinnen in ihrer Muttersprache beschimpfen. Das ist völlig respektlos und inakzeptabel und darf auch von der Pflichtschule nicht geduldet werden. Den Lehrern und Lehrerinnen wurden im Laufe der Zeit zu viele Zuständigkeiten umgehängt, die gar nicht zu ihrem Berufsbild gehören. Die Kinder und Familien bräuchten in diesen Fällen gute Sozialarbeiter, die mit ihnen außerhalb der Schule arbeiten. Erfahrungen mit Flüchtlingsfamilien sind sehr unterschiedlich. Einerseits gibt es jene, die fleißig und rasch lernen, andererseits jene, denen in Österreich alles nur schlecht erscheint.
Auch antisemitische Vorfälle häufen sich in Schulen. Wie soll man mit dieser konkreten Entwicklung umgehen?
Antisemitische Äußerungen werden oft ohne nachzudenken geäußert. Ist das Gewohnheit? Gibt es Vorbilder? Ich weiß es nicht. Jedenfalls sind Aufklärung und viel Arbeit erforderlich.
Was sagen Sie zu Beobachtungen von Lehrern, wonach für manche muslimische Schüler ihre Religion und ihre Herkunft wichtiger seien als die Schule und das, was die Lehrer sagen? Der Einfluss des Familienverbandes sei einfach zu stark.
Es ist richtig, dass der Einfluss der Familie sehr bedeutsam und prägend ist. Demzufolge sind auch tradierte Verhaltensweisen wie die Geringschätzung der Frau oder die höhere Wertigkeit der Religion gegenüber den Gesetzen leider dominant. 2016 hat das BMI Grundregeln herausgegeben, die aufzeigen, welche Grundregeln in Österreich gelten. Diese gibt es in sehr viele Sprachen übersetzt und helfen uns oft als Grundlage bei Gesprächen. Auch in der Feststellung, dass Gesetze gelten und befolgt werden müssen.
Was ist Ihrer Meinung nach grundsätzlich die Ursache dieser Entwicklung und welche Folgen kann sie für die betroffenen Schüler haben?
Wir bemerken, dass Kinder sehr stark von der religiösen und tradierten Erziehung der Eltern abhängig sind. Sie bringen familiäre Wertvorstellungen mit in die Schule, die aber dann bei uns auf Widerstand stoßen. Beispiele gibt es genug: „Wir dürfen nicht neben einem Mädchen sitzen oder mit ihm zusammenarbeiten. Wir dürfen keine Musik machen. Schwimmen dürfen wir auch nicht. Ich kann mich für den Sportunterricht nicht umziehen. Meine Tochter darf nicht auf die Projektwoche mitfahren, weil sie dann zu viel mit Buben zusammen ist. Ich darf nicht mit dir reden, weil du kein Kopftuch trägst. Du musst dich ganz hinten anstellen, weil du kein Moslem bist.“ Und so weiter. Eltern, die ihre traditionellen Wertvorstellungen nicht erweitert haben, machen es ihren Kindern ganz schwer. Für die Kinder ist es schwierig, beiden Welten mit ihren Erfordernissen gerecht zu werden.
Eine letzte Frage noch zu Mädchen mit Migrationshintergrund, die ja besonders gefährdet sind, Opfer von religiösem Mobbing in der Schule zu werden. Wie kann man diese Mädchen besser fördern?
Mädchen mit Migrationshintergrund brauchen sehr viel Zuwendung und Zuspruch, sie brauchen eine erwachsene Vertrauensperson, zum Beispiel eine gute Sozialarbeiterin, die ihnen hilft und sie unterstützt. Unsere Beobachtung ist, dass sich Mädchen sehr schnell und ohne Widerspruch den familiären Vorstellungen fügen. Vermutlich spielt hier das Rollenbild der Frau wie auch Angst vor Gewalt eine Rolle. Was würde noch helfen? Vielleicht Workshops nur für Mädchen, im Bereich der Technik werden etliche solche Workshops exklusiv für Mädchen angeboten. Auf jeden Fall aber die Stärkung des Selbstbewusstseins.
Andrea Walach ist seit 1999 Direktorin der Neuen Mittelschule in der Gassergasse. Sie wurde 1956 in Wien geboren und absolvierte ihre Lehramtsprüfung für Volksschule und Hauptschule. In zahlreichen Interviews macht sie auf Probleme im Schulalltag aufmerksam.