05 Gewalt gegen Frauen
„Aktuell sind mehr als 180.000 Mädchen und Frauen in Europa dem Risiko einer Genitalverstümmelung ausgesetzt.“
Interview mit Naila Chikhi
Naila Chikhi macht darauf aufmerksam, dass jede Frau von geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen sein kann. Es gibt jedoch „Risikofaktoren“ wie z. B. ökonomischer Status oder Migrationshintergrund, die einige Gruppen besonders anfällig machen. So ist bei Frauen mit Migrationshintergrund aufgrund kultureller und sprachlicher Barrieren die Schwelle, Hilfe zu erhalten, oft höher. Sie weist darauf hin, dass nicht nur Mädchen in Afrika oder Asien von einer Genitalverstümmelung bedroht, sondern auch in Europa lebende Mädchen diesem Risiko ausgesetzt sind.
Welche Formen von Gewalt gegen Frauen gibt es?
Gewalt gegen Frauen ist eine systematische Form der Verletzung der Menschenrechte von Frauen. Sie ist in sexistischen patriarchalen Strukturen verwurzelt und manifestiert sich somit in vielen Formen. Gewalt an Frauen ist immer ein Angriff auf die körperliche Unversehrtheit der Frau, angefangen mit Schubsen, Ohrfeigen, Treten, Verbrennen, Würgen bis hin zur Verstümmelung ihrer Genitalien oder im extremsten Fall bis zum Mord. Sie kann psychisch sein, zum Beispiel Drohen, Beleidigen, Demütigen und Stalken. Nötigung, Vergewaltigung oder (Zwangs-)Prostitution zählen unter anderem zur sexualisierten Form. Ökonomische Gewalt wird beispielsweise durch Arbeitsverbot oder -zwang, Kontrolle der Finanzen, wirtschaftliche Ausbeutung, Frauenhandel oder Leihmutterschaft ausgeübt. Bei Frauen und Mädchen, die von ihrem sozialen Umfeld, also Familie oder Freunden, isoliert oder eingesperrt werden, spricht man von sozialer Gewalt. Auch Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, also bestimmte Orte, Wege oder Situationen meiden zu müssen, um Belästigungen oder Bedrohungen zu entgehen, ist eine Art von Gewalt. All diese Formen werden „geschlechtsspezifisch“ genannt, weil eben nur Frauen aufgrund ihres Geschlechts betroffen sind, die Taten fast ausschließlich von Männern verübt und durch die Geschlechterungleichheit in Gesellschaften begünstigt oder zumindest nicht verhindert werden.
Inwiefern unterscheidet sich in diesem Zusammenhang personelle Gewalt, also von einem handelnden Täter ausgehend, von struktureller Gewalt – also Gewalt, die in ein Gesellschaftssystem eingebaut ist?
Wenn eine Gesellschaft so aufgebaut ist, dass eine Person schon aufgrund ihres Geschlechtes nicht gleichbehandelt wird und sich somit nicht frei und selbstbestimmt entfalten kann, kann man von struktureller Gewalt sprechen. Oft wird strukturelle Gewalt gegen Frauen nicht sofort erkennbar. Sexistische Werbung vermittelt ein bestimmtes Rollenbild von Frauen und stellt einen Missbrauch durch die Medien dar. Dasselbe betrifft die ungleiche Verteilung von Einkommen oder den Zugang zu bestimmten Berufen. Andere strukturelle Gewaltformen gegen Frauen können offensichtlicher sein, wenn sie zum Beispiel aufgrund der Herkunft, der politischen Weltanschauung, der sexuellen Ausrichtung oder der körperlichen Eingeschränktheit erfolgen. Strukturelle Gewalt gegen Frauen kann einen kulturellen, religiösen oder politischen Hintergrund haben. Beispiele sind schädliche Praktiken wie weibliche Genitalverstümmelung, Verbrechen im Namen der Ehre, Zwangs- und Frühehen, Mitgiftmorde, Säure-Anschläge oder Vergewaltigung und Zwangskonversion als Kriegswaffe, Femizid und Töten des weiblichen Fetus, weil Buben das „wertvollere“ Geschlecht sind. Diese Menschenrechtsverletzungen an Mädchen und Frauen sind heutzutage immer noch auf der ganzen Welt sehr verbreitet.
Und die personelle Gewalt ...
Zu personeller Gewalt gegen Frauen zählt neben der häuslichen die sexualisierte Gewalt. Häusliche Gewalt ist die verbreitetste Form der Gewalt gegen Frauen. Sie wird oft durch Verwandte oder Partner ausgeübt, um unter anderem Machtherrschaft zu demonstrieren. Häufig ist dieser Angriff verbunden mit sexualisierter Gewalt. Laut einer repräsentativen Studie zur Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen vom deutschen Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend aus dem Jahr 2005 sind rund 25 Prozent aller in Deutschland lebenden Frauen körperlich oder sexualisiert durch den aktuellen oder einen früheren Beziehungspartner angegriffen worden. Nach Einschätzung der World Health Organisation ist weltweit jede dritte Frau von sexueller, psychischer oder physischer Gewalt innerhalb oder außerhalb der Partnerschaft betroffen. Geschlechtsbasierte Gewalt beginnt bereits bei frauenfeindlicher Sprache, anzüglichen Blicken oder verbalen Belästigungen und reicht über ungewollte Berührungen bis hin zum erzwungenen Geschlechtsverkehr. Sexualisierte Gewalt betrifft Frauen nicht nur in der eigenen Wohnung, sondern auch auf öffentlichen Plätzen, bei der Arbeit und online. Gewalt gegen Frauen hat neben der augenscheinlichen personellen also auch immer eine gesellschaftlich-strukturelle Dimension, da geschlechtsspezifische Gewalt ein Ausdruck von geringerer Wertschätzung von Frauen gegenüber und im Vergleich zu Männern ist.
Wo bzw. wie erleben Frauen in Europa am häufigsten Gewalt? Zu Hause? Am Arbeitsplatz? Von ihrem Partner, ihren Eltern, ihren Vorgesetzten?
Gewalt an Frauen ist in allen Bereichen, dem privaten, dem öffentlichen oder beruflichen zu finden. Laut der Studie „Violence against women: an EU-wide survey“, die 2014 von der FRA – European Union Agency for Fundamental Rights – durchgeführt wurde, haben 33 Prozent der Frauen in der Kindheit körperliche oder sexuelle Gewalt durch Erwachsene erfahren. Zwölf Prozent der Frauen waren in der Kindheit von sexueller Gewalt betroffen, die in der Hälfte der Fälle von fremden Männern ausgeübt wurde. 22 Prozent haben körperliche und/oder sexuelle Gewalt in der Partnerschaft erlebt. 43 Prozent waren entweder durch den aktuellen oder einen früheren Partner psychischer Gewalt ausgesetzt. 55 Prozent haben irgendeine Form der sexuellen Belästigung erlebt. 32 Prozent der Opfer sexueller Belästigung nannten als Täter oder Täterinnen Vorgesetzte, Kollegen und Kolleginnen oder Kunden und Kundinnen. 18 Prozent der Frauen haben seit dem 15. Lebensjahr Stalking erlebt und unter den jungen Frauen, also 18 bis 29 Jahre, waren es 20 Prozent, die bereits Opfer von Online-Belästigung wurden. Auch wenn sich Organisationen und Institutionen bemühen, Statistiken zu erstellen, um gezielte politische Maßnahmen zum Schutz der Mädchen und Frauen zu ergreifen, darf nicht vergessen werden, dass noch eine hohe Dunkelziffer vorhanden ist, da viele diese Angriffe nicht angesprochen oder angezeigt werden.
Welche Frauen sind besonders gefährdet? Frauen mit Migrationshintergrund? Junge Frauen? Arme Frauen?
Unabhängig vom Alter, Erscheinungsbild, Verhalten, Familienstand, sozialer Schicht, Bildungsniveau, beruflicher Situation und politischer Meinung kann jedes Mädchen und jede Frau von geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen sein. Vorliegende Erkenntnisse zeigen allerdings, dass es „Risikofaktoren“ gibt, die einige Gruppen von Frauen besonders anfällig für geschlechtsspezifische Gewalt machen. Dazu gehören das Alter, die sexuelle Orientierung, der ökonomische Status, der Gesundheitszustand und der Migrationshintergrund. Eine jüngere Frau, die wenig Schutz hat, ist, sei es während der schulischen oder auch beruflichen Ausbildung, mehr geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt. Auch Seniorinnen haben ein höheres Risiko, eine Gewalterfahrung zu machen, da sie oft aufgrund eingeschränkter Mobilität in einem Abhängigkeitsverhältnis zu anderen Personen stehen. Hier sind Vernachlässigung, finanzieller, psychologischer oder sexueller Missbrauch übliche Gewaltformen. Das gleiche gilt für Frauen, die über wenige finanzielle Ressourcen verfügen, da sie mehr in einem Abhängigkeitsverhältnis, zum Beispiel zum Partner oder Arbeitgeber, stehen. 2012 gaben 23 Prozent der europäischen homosexuellen Frauen an, sexuell belästigt worden zu sein, verglichen mit einem Gesamtdurchschnitt von 19 Prozent in der europäischen LGBT-Community – also Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender. Auch Frauen mit Migrationshintergrund haben ein höheres Risiko, Opfer eines Missbrauchs zu werden. Die Schwelle, Hilfe zu erhalten, ist bei dieser Gruppe aufgrund kultureller und sprachlicher Barrieren oft höher. Diskriminierungserfahrungen sammeln Frauen mit Migrationshintergrund seitens der „Aufnahmegesellschaft“, etwa durch rassistische Angriffe, aber auch seitens der eigenen oder einer anderen Community, beispielsweise durch geschlechtsspezifische Angriffe. Aktuell lassen sich solche Phänomene auch im Kontext der Flüchtlingskrise beobachten: Meist stammen die geflüchteten Frauen aus streng religiösen und patriarchalen Gesellschaften, waren in ihren Heimatländern, auf dem Fluchtweg aber auch bei ihrer Ankunft in Europa durch Mitreisende oder Einheimische Gewalt aufgrund ihres Geschlechts ausgesetzt. Vergewaltigungen während der Flucht sind keine Seltenheit, weshalb sich viele aus Afrika flüchtende Frauen im Vorfeld eine Dreimonatsspritze geben lassen, um zumindest nicht ungewollt durch eine Vergewaltigung schwanger zu werden.
Welche Maßnahmen kann die Politik gegen Gewalt an Frauen ergreifen?
Auf internationaler aber auch nationaler Ebene muss klargestellt werden, dass Gewalt an Mädchen und Frauen nicht traditionell, kulturell oder religiös begründet werden darf. Sie muss aufs Schärfste verurteilt werden. Auch wirtschaftliche Abkommen und internationale Konzerne können bei der Bekämpfung von frauenspezifischen Diskriminierungen aktiv werden. Die Sensibilisierungs- und Aufklärungsarbeit von Interventions- und Präventionsstellen kann bei Ärzten, Pflegepersonal, Polizisten und Behördenmitarbeitern unterstützend sein. Es müssen ausreichend Mittel bereitgestellt werden, um Hilfsstrukturen wie Beratung, Frauenhäuser und Frauenzufluchtswohnungen auszubauen, damit sie allen Betroffenen einfacher und schneller zugänglich gemacht werden. Da es derzeit noch an effektiven staatlichen Schutz- und Unterstützungskonzepten fehlt, sollten fachspezifische Organisationen und Institutionen aktiv an der Entwicklung von konkreten, wirksamen und standardisierten Strategien zur Unterstützung der Betroffenen mitwirken. Um aussagekräftige Erkenntnisse über das Ausmaß von Gewalt gegen Frauen gewinnen zu können, ist die Förderung wissenschaftlicher Studien und Forschung unerlässlich. Nur so können auch tabuisierte Gewaltformen wie zum Beispiel Prostitution und Menschenhandel wirkungsvoll bekämpft werden. Zuallerletzt müssen auch gesetzliche Maßnahmen zur Ächtung von geschlechtsspezifischer Gewalt ergriffen und konsequent durchgesetzt werden, sodass es einerseits zu einer straf-, zivil- oder arbeitsrechtlichen Verurteilung von Tätern und andererseits vor allem zur Rehabilitation von Betroffenen kommt.
Was kann die Gesellschaft bzw. jeder einzelne von uns gegen Gewalt an Frauen machen?
Die Politik, gesellschaftliche Akteure genauso wie jeder einzelne Bürger können Gewalt gegen Frauen Einhalt gebieten, aber vor allem vorbeugen. Schon im frühen Alter muss die Gleichberechtigung der Geschlechter vermittelt werden. Eine derartige Aufklärungsarbeit ist durchgehend in den Bildungs- und Ausbildungsstätten aller Altersstufen sinnvoll. Das Lehrpersonal sollte auch sensibilisiert werden, um zum Beispiel Mobbing von Mädchen oder sexistische Verhaltens- und Ausdrucksweisen früh zu erkennen und mit den Schülern sowie mit den Eltern zu thematisieren. Sexistische Situationen trifft man täglich. Sei es im eigenen Haus, auf der Straße oder auch in den Medien – man ist fast daran gewöhnt. Gewalt gegen Frauen darf weder ignoriert noch geduldet werden. Hier ist eine solidarische Haltung und Zivilcourage gefragt.
Gibt es in europäischen Ländern genug niederschwellige Anlaufstellen für Frauen, die von Gewalt betroffen sind?
Das WAVE-Netzwerk führt regelmäßig eine Studie zu diesem Themenkomplex durch. Die letzte Studie aus dem Jahr 2015 liefert dazu ein gemischtes Bild: Nur 17 von 46 untersuchten Staaten haben eine kostenfreie Hotline, die Frauen rund um die Uhr erreichen können, wenn sie von Gewalt betroffen sind. Damit erfüllen lediglich 37 Prozent der Staaten die von der Istanbul-Konvention gesetzten Standards. Bei den EU-Ländern haben zehn von 28 Staaten eine kostenfreie, 24 Stunden erreichbare Hotline, also rund 36 Prozent. Bei den Frauenhäusern schneiden die EU-15, also die EU-Länder, die vor 2004 beitraten, besser ab als der Rest der untersuchten Länder, aber nur fünf Länder erreichen insgesamt die Standards der sogenannten Istanbul-Konvention. In den meisten Ländern gibt es nicht ausreichend Plätze in Frauenhäusern und die Standards werden nicht erreicht. WAVE fordert die Anzahl und Erreichbarkeit von Frauenhäusern zu verbessern und das Angebot an den Bedarf von behinderten Frauen und Frauen mit Migrationshintergrund, insbesondere solche ohne Aufenthaltsstatus, anzupassen. Auch bei Frauenzentren bzw. Beratungsstellen, die zu verschiedenen Formen geschlechtsspezifischer Gewalt beraten, gibt es großen Nachholbedarf. 86 Prozent der bestehenden Frauenzentren sind in den „alten“, nur sechs Prozent in den „neuen“ EU-Mitgliedsstaaten angesiedelt. Zudem befinden sich solche meist in urbanen Gebieten, sodass sie nicht jede Frau leicht erreichen kann.
Welche Versäumnisse gab es in der Vergangenheit? Wurde Gewalt gegen Frauen bisher generell unterschätzt?
Das Thema findet im akademischen Diskurs seit rund 30 Jahren Beachtung, zunächst aus kriminologischer Perspektive, später aus medizinischer. Zuletzt folgte die Einsicht, dass es ein Menschenrechtsthema ist. Als solches wird es seit etwa 20 Jahren diskutiert. Zentral ist die Forderung mehr Geschlechtergerechtigkeit herzustellen und einen Wandel in der Gesellschaft zu vollziehen. Die Staatengemeinschaft hat den Handlungsbedarf erkannt: Seit 1979 haben 189 Staaten das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) der UN unterzeichnet, 2011 beschlossen 13 Staaten des Europarats in der Istanbul-Konvention, Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt zu treffen. Es existieren also supranationale sowie regionale beziehungsweise internationale Abkommen zu diesem Thema. Wie bereits erwähnt, zeigen die aktuellen Studien dennoch, dass die Zahl der Frauen, die durch geschlechtsspezifische Gewalt betroffen sind, weiterhin hoch bleibt. Es ist ein wichtiges Signal, dass sich Staaten durch die Unterzeichnung von Konventionen zur Beendigung von Gewalt gegen Frauen bekennen. Allerdings braucht es viel mehr zivilgesellschaftliche Maßnahmen und Projekte in Communities, die einen Bewusstseinswandel voranbringen. Auch muss weiterhin intensiv an der Gleichstellung der Geschlechter auf allen Ebenen gearbeitet werden, da sie ein Schlüsselelement auch für die Beseitigung von Gewalt gegen Frauen ist. Weiterhin muss Gewalt gegen Frauen enttabuisiert werden, sodass Betroffene den Mut aufbringen, Gewalttaten öffentlich anzusprechen und anzuzeigen. Da geschlechtsspezifische Gewalt strukturell stark verankert ist, hängt die Beseitigung sehr stark vom Willen der Regierungen ab und vom zivilgesellschaftlichen Druck, der glücklicherweise in den letzten Jahren gewachsen ist. Vor 50 Jahren gab es dieses Bewusstsein noch nicht, daher können wir natürlich von „Versäumnissen“ sprechen.
Wollen Sie eine Prognose wagen? Wie wird das weitergehen mit der Gewalt gegen Frauen?
Es gibt gute Gesetze und Rahmenbedingungen und das Bewusstsein in der Bevölkerung, um in Zukunft geschlechtsspezifische Gewalt stärker zu bekämpfen. Wir sind auf einem guten Weg und hoffen zunächst, das Dunkelfeld zu erhellen. Dass also mehr Frauen Gewalttaten anzeigen und sich wehren. Das könnte zunächst die Fallzahlen hochschnellen lassen, aber auf lange Sicht werden weniger Frauen Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt.
Weltweit ist die Genitalverstümmelung von Mädchen immer noch weit verbreitet, in Teilen Afrikas oder Indonesiens beispielsweise. Welche Maßnahmen kann die westliche Welt, die Vereinten Nationen etwa, setzen, um dieser Grausamkeit Einhalt zu gebieten?
Weibliche Genitalverstümmelung, kurz FGM, also „female genital mutilation“, betrifft nicht nur Mädchen in Afrika oder Asien, auch hier in Deutschland oder in Europa lebende Mädchen sind dem Risiko ausgesetzt, heimlich hierzulande oder im Ausland an ihren Genitalien verstümmelt zu werden. TERRE DES FEMMES geht aktuell von rund 49.000 betroffenen und 9.000 gefährdeten Frauen in Deutschland aus. UN-Mitgliedstaaten, die die Resolution A/RES/67/146 im Jahr 2012 unterschrieben haben, sprachen sich einstimmig für ein weltweites Verbot der weiblichen Genitalverstümmelung aus. Seitdem wird verstärkt an der Umsetzung der erforderlichen komplexen, aber auch vielfältigen Maßnahmen und Strukturen, die Frauen und vor allem Mädchen vor dieser schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung schützen sollen, aktiv gearbeitet: Strafverfolgungsmechanismen, Opferfürsorge, Fortbildungen zum Umgang mit Betroffenen für verschiedene Berufsgruppen, Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit sowie Öffentlichkeitsarbeit, die von Regierungen, Organisationen, zivilgesellschaftlichen Akteuren wie religiösen Vertretern, Gemeinden, Basisaktivisten und Ärzten geleistet wird. Im Dezember 2014 haben die Vereinten Nationen ihren Einsatz für die weltweite Beendigung der Praktik weiblicher Genitalverstümmelung mit Verabschiedung der Resolution A/69/150 noch einmal bekräftigt. Auf europäischer Ebene sind die drei wichtigsten Instrumente zur Abschaffung von weiblicher Genitalverstümmelung die Istanbul-Konvention, ein Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt aus dem Jahr 2011; die Victim’s Rights Directive, eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates aus dem Jahr 2012; und die Mitteilung der Europäischen Kommission an das Europäische Parlament sowie den Rat zur Abschaffung der weiblichen Genitalverstümmelung. Diese drei Instrumente beinhalten unter anderem das Verbot von FGM in allen Vertragsstaaten und Maßnahmen zur Prävention sowie zum Gewalt- und Opferschutz.
Was halten Sie von der Forderung, dass die Genitalverstümmelung nicht nur in einigen Ländern, sondern überall als eigenes Delikt gelten soll?
TERRE DES FEMMES hat das jahrzehntelang gefordert und sich dafür stark gemacht und seit 2013 ist weibliche Genitalverstümmelung nun tatsächlich ein eigener Straftatbestand. Weibliche Genitalverstümmelung wird gemäß §226a StGB mit bis zu 15 Jahren Haft geahndet. Im Jahr 2015 wurde eine im Ausland begangene Genitalverstümmelung auch im deutschen Strafgesetzbuch als „Auslandstat mit besonderem Inlandsbezug“ aufgenommen (§ 5 Abs. 9a,b StGB) und kann entsprechend geahndet werden. Im Falle einer durchgeführten Genitalverstümmelung können Eltern der betroffenen Mädchen gemäß §225 StGB „Misshandlung Schutzbefohlener“ oder gemäß § 171 StGb „Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht“ ebenfalls strafrechtlich geahndet werden. Diese Gesetze sind sehr wichtig, da sie eine Signalwirkung haben: FGM ist offiziell verboten und eine Straftat. Jedoch müssen solche Gesetze immer auch durch Aufklärungskampagnen und Sensibilisierungsarbeit begleitet werden, um wirklich Wirkung zu erzielen. Dass ein Gesetz alleine nicht reicht, sieht man zum Beispiel in Guinea: Dort ist FGM offiziell schon lange verboten und dennoch ist es eines der Länder mit der höchsten Prävalenzrate weltweit.
Sie sagten vorhin, dass auch Mädchen in Europa von Genitalverstümmelung betroffen sind? Werden diese Verstümmelungen auch in Europa durchgeführt?
Bedauerlicherweise sind FGM-Fälle auch in Europa bekannt. Dort betrifft es Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund. Aktuell sind mehr als 180.000 Mädchen und Frauen in Europa dem Risiko einer Genitalverstümmelung ausgesetzt. Die Tatsache, dass FGM so weit und über nationale Grenzen hinweg verbreitet ist, macht eine internationale und insbesondere transkontinentale Zusammenarbeit unerlässlich. Kernelement der Präventionsarbeit ist dabei immer die Aufklärung und Sensibilisierung. Um gefährdete Mädchen in der Europäischen Union zu schützen, koordiniert TERRE DES FEMMES seit Januar 2016 das von der Europäischen Union ko-finanzierte Projekte „CHANGE Plus“ zur Abschaffung weiblicher Genitalverstümmelung. Gemeinsam mit Partnerorganisationen aus den Niederlanden, Großbritannien, Frankreich, Portugal, Italien und Belgien wurden einflussreiche Mitglieder aus praktizierenden Communities in der Diaspora zu den verschiedenen Dimensionen von weiblicher Genitalverstümmelung geschult. Als Multiplikatoren, sogenannte „CHANGE Agents“, klären sie seither innerhalb ihrer eigenen Communities zum Thema auf mit dem Ziel, einen kulturellen Wandel anzustoßen und langfristig die Praktik abzuschaffen. Sie organisieren Veranstaltungen, um Verhaltensänderungen anzuregen und regen den Dialog innerhalb der Communities an. Durch ihr Vorbild sollen andere zum Engagement für Mädchen- und Frauenrechte motiviert werden. Neben der Sensibilisierungsarbeit legt das Projekt einen zusätzlichen Fokus auf die Netzwerkarbeit auf politischer und institutioneller Ebene. Die Multiplikatoren suchen den Dialog mit Politikern und Fachkräften auf regionaler und nationaler Ebene und fördern so, dass der Bedarf und die Bedürfnisse der Communities in die politischen Entscheidungsprozesse miteinbezogen werden. Ziel ist es auch, politische Rahmenbedingungen zu schaffen, die gefährdete Mädchen und Frauen in der EU besser vor weiblicher Genitalverstümmelung schützen.
Zwangsehen und das Verheiraten von Minderjährigen haben in Europa zuletzt wieder zugenommen. Auch durch die Flüchtlingsbewegung, weil Menschen aus Kulturkreisen nach Europa gekommen sind, in denen Zwangs- und Kinderehen üblich sind. Aber natürlich nicht nur. Dieses Phänomen kommt beispielsweise auch in der türkischen und bosnischen Kultur vor. Was können die hiesigen Regierungen bzw. die Gesellschaften dagegen tun?
Im Kontext der aktuellen Flüchtlingsbewegung sind geflüchtete Mädchen und Frauen auf dem Fluchtweg besonders gefährdet, zwangsverheiratet zu werden. Aus den Flüchtlingslagern in der Türkei und Jordanien gibt es beunruhigende Berichte von rapide ansteigenden Zahlen von Kinderhochzeiten. Frauenrechtlerinnen vor Ort sprechen von einem regelrechten Heiratsmarkt, der mittlerweile entstanden sei. Aus finanziellen Gründen oder weil sie um die Sicherheit ihrer Töchter fürchten, stimmen Eltern einer frühen Heirat oft zu. Durch solche Entwicklungen in anderen Ländern sind europäische Länder in der Tat zunehmend mit Zwangs- und Frühverheiratungen konfrontiert. In Deutschland kommt es jährlich zu zahlreichen Fällen. Laut Angaben des Ausländerzentralregisters aus dem Jahr 2016 lebten im Juli 2016 in Deutschland rund 1.475 verheiratete minderjährige Ausländer, darunter 1.152 minderjährige Ehefrauen. 361 waren unter 14 Jahre alt. Aber wie Sie schon sagten, sind nicht nur geflüchtete Frauen, sondern auch Frauen aus binationalen oder Familien mit Migrationshintergrund von Zwangs- und Frühehen betroffen. Zwangs- und Frühehen sind nach den Vereinten Nationen eine Menschenrechtsverletzung. Sie beeinträchtigen das physische und psychische Wohl von Kindern und Jugendlichen sowie ihre Entwicklungs- und Entfaltungschancen. Nur sehr wenige Staaten aus der Europäischen Union haben das Heiratsalter auf 18 für Frauen und Männer festgelegt. In Deutschland wurde ein Gesetz erst Anfang Juni 2017 beschlossen, das Frühehen verhindern bzw. Betroffene schützen soll – bisher gab es eine Ausnahmeregelung, mit der man ab 16 Jahren heiraten konnte. Problematisch bleiben vor allem religiöse bzw. soziale Verheiratungen von Minderjährigen. Diese rechtlich nicht wirksamen Eheschließungen sind bis jetzt strafrechtlich nicht verfolgbar, wenngleich sie für Betroffene genauso bindend sind wie eine standesamtliche Ehe. Bei strafrechtlichen Prozessen im Falle einer angezeigten Zwangs- oder Frühverheiratung müssen sich die Betroffenen meist alleine gegen ihre Familie, wenn nicht gegen die gesamte Community durchsetzen. Es ist unabdingbar, dass die Unterstützung und Hilfe für die Betroffenen ausgebaut wird.
Welche konkreten Maßnahmen könnte man dabei setzen?
Prävention und Bekämpfung von Zwangs- und Frühehen sind eine langfristige Arbeit, die von unterschiedlichen Akteuren nachhaltig in die Hand genommen werden muss. Die Schulpflicht von Mädchen muss durchgesetzt und bei Missachtung stärker geahndet werden. Das Thema Früh- und Zwangsehen soll in Schulen sowie in Freizeit- und Jugendzentren altersgerecht mit Mädchen, Buben und Heranwachsenden thematisiert werden. Das Theaterprojekt „Mein Leben. Meine Liebe. Meine Ehre?“, das 2014 als Gemeinschaftsproduktion von TERRE DES FEMMES, „Mensch: Theater!“ und der Beratungsstelle Yasemin entstand, ist dafür eine empfehlenswerte Grundlage. Darüber hinaus muss eine Aufklärung und Sensibilisierung des Betreuungspersonals durch Fachmaterialien stattfinden. Eine Änderung der sozialen Normen innerhalb der betroffenen Communities kann durch mehrsprachige Kampagnen und Gesprächsrunden in den Gemeinden initiiert werden, um die Eltern über die Nachteile der Frühverheiratung ihrer Kinder zu informieren. Der flächendeckende Ausbau von Beratungs- und Zufluchtseinrichtungen gemäß den Standards der Istanbul-Konvention ist dringend notwendig, damit gefährdete Personen rechtzeitig die nötige Hilfe in Anspruch nehmen können.
Welche Möglichkeiten haben junge Mädchen, die vor einer Zwangsverheiratung stehen, sich dagegen zu wehren und aus ihren Familien auszubrechen? Gibt es für diese Mädchen genug Unterstützung vonseiten der Behörden?
Wenn sich ein Mädchen von einer Zwangs- oder Frühverheiratung bedroht fühlt bzw. bedroht ist, müsste es zuerst den Mut und die Kraft finden, sich dem Vorhaben ihrer Familie zu widersetzen. Mit Tod oder Verstoß aus der Familie bedroht zu werden, ist in diesem Fall keine Seltenheit. Der erste Schritt, sich Hilfe zu suchen, ist der schwierigste. Deshalb ist eine alters- und sprachgerechte Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit von so großer Bedeutung. Es gibt zahlreiche Beratungsstellen, an die sich Mädchen persönlich oder telefonisch, per E-Mail oder per Live Chat wenden können. Eine andere Möglichkeit ist es, eine Vertrauensperson zu informieren. Je nachdem, wie akut die Situation ist, kann das gefährdete Mädchen in einer anonymen Kriseneinrichtung oder einem Heim aufgenommen werden. Die Schule, Mitarbeiter von sozialen Einrichtungen, das Jugendamt, die Polizei aber auch die Ausländerbehörde sind mögliche Anlaufstellen. Theoretisch wird eine Unterstützung seitens der Behörden gewährleistet, in der Praxis scheitert es allerdings oft. Denn neben Unklarheiten bei der Zuständigkeit aufgrund des Alters der betroffenen Person gibt es nicht selten Probleme bei der Kostenübernahme im Falle der Aufnahme in eine Schutzeinrichtung. Darüber hinaus sind nicht alle Behördenmitarbeiter ausreichend und flächendeckend geschult. Auf dieser Ebene ist noch viel zu tun.
Naila Chikhi ist Projektreferentin bei CONNECT, einem Projekt von TERRE DES FEMMES in Deutschland. Ziel des Projekts ist es, weibliche Flüchtlinge in Berlin bei ihrem Integrationsweg zu begleiten, sodass sie ein selbstbestimmtes und freies Leben in Deutschland führen können.